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Dienstag, 29. März 2011

Essay: Himmelsmechanik

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich die meisten Astronomen und viele Mathematiker in erster Linie mit der Positions- und Bahnbestimmung der Himmelskörper und mit der Vorhersage ihrer Bewegungen. Die Astrophysik – so wie man sie heute kennt – war damals erst in ihren Anfängen. Das 18. und das 19. Jahrhundert war – astronomisch gesehen - die Blüte der Himmelsmechanik. In dieser Zeit wurden auf der Grundlage der von ISAAK NEWTON (1643-1727) entdeckten Bewegungsgesetze die mathematischen Methoden für die Berechnung von Planeten- und Kometenbahnen entwickelt, die heute noch in Gebrauch sind. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war dabei zweifelsohne die „rechnerische“ Entdeckung des Planeten Neptun im Jahre 1847 durch JOHN COUCH ADAMS (1819-1892) und URBAIN JEAN LEVERRIER (1811-1877). 

Der „Terminus“ Himmelsmechanik wurde von dem berühmten französischen Mathematiker PIERRE SIMON DE LAPLACE (1749-1827) eingeführt. Seitdem versteht man darunter die mathematische Theorie der Bewegung der Himmelskörper unter dem Einfluß der Newtonschen Gravitationskraft. In ihrer modernen Form verwendet man sie heute u. a. zur Berechnung der Bahnen von interplanetaren Raumsonden, denen wir einen Großteil unseres Wissens über die Planeten des Sonnensystems verdanken. Mit der Möglichkeit, umfangreiche numerische Berechnungen auf Computern ausführen zu können, haben sich auch die Anwendungsfelder der Himmelsmechanik auf Systeme aus sehr vielen Himmelskörpern ausgeweitet. So kann die Dynamik von offenen und kugelförmigen Sternhaufen und ihre Stabilität in der Zeit detailliert auf dem Computerbildschirm untersucht werden. Selbst Zusammenstöße von Galaxien lassen sich mit wenig Aufwand auf dem heimischen Personalcomputer simulieren. Ein weiteres wichtiges Untersuchungsgebiet der modernen Himmelsmechanik ist das große Gebiet der chaotischen Bahnen im Sonnensystem. Seit HENRY POINCARE’s epochemachenden Untersuchungen ist bekannt, daß es mechanische Systeme gibt, die über lange Zeiträume zu einem chaotischen (d.h. nicht vorhersagbaren) Verhalten neigen. Darunter versteht man, daß bereits minimale Änderungen in den Anfangsbedingungen – z.B. im Fall von Planetenbahnen ihrer Positionen – über lange Zeiträume hinweg in der Vorhersage zu völlig anderen Bahnen oder Positionen auf den Bahnen führen, als man ohne diese minimalen Änderungen erwarten würde. Diese Erkenntnis wird heute unter dem Begriff des „deterministischen Chaos“ zusammengefaßt. Die Langzeit-Stabilität des Sonnensystems, die etwas mit dieser Art von „Chaos“ zu tun hat,  ergibt sich – wie man seit einigen Jahren weiß -, aus einem diffizilen Ausgleich der Störungen der Planeten untereinander. Trotzdem sind die genauen Positionen der Planeten über Zeiträume der Größenordnung von 100 Millionen Jahren hinweg prinzipiell nicht vorhersagbar.

Es soll an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden, daß die „Himmelsmechanik“ einen genialen Vorläufer besaß, der zwar nicht dem Terminus „Mechanik“  gerecht wird, aber trotzdem weit über 1500 Jahre lang die Bedürfnisse der Menschen, die Positionen von Sonne, Mond und Planeten vorherzubestimmen, auf eine erstaunliche Art und Weise gerecht wurde. Es handelt sich dabei um die mathematische Theorie des geozentrischen Weltbildes, welches in der überlieferten Form auf HIPPARCH VON NIKAIA (ca. 161-127 v.Chr.) und CLAUDIUS PTOLEMÄUS (ca. 100 bis 178) zurückgeht.  Als Ptolemäus um 140 sein ihn berühmt machendes Werk „mathematikes syntaxeos biblia XIII“ verfaßte, konnte er bereits auf die Arbeit von vielen Generationen von Astronomen, Mathematikern und Naturphilosophen zurückgreifen. Es können hier nur einige wenige genannt werden: APOLLONIUS VON PERGE (um 262-190 v.Chr.), Theorie der Kegelschnitte, Epyzikeltheorie; HIPPARCH VON NIKAIA, genaue Bestimmung von Sonne, Mond und Planetenpositionen, Verbesserung der Epyzikeltheorie; EUDOXOS VON KNIDOS (408-355 v.Chr.), erster umfangreicher Sternkatalog und Himmelskarte; ARISTARCH VON SAMOS (um 310-230 v.Chr. ), erstes heliozentrisches Weltsystem.

Dadurch, daß um 830 muslimische Gelehrte den „Almagest“ des Ptolemäus ins Arabische übersetzten, konnte dieses Werk das fundamentalistische Zeitalter des frühen Christentums in Europa relativ unbeschadet überstehen. Über die Mauren, die bis zu KARL MARTELL‘s (ca. 689 bis 741) Zeiten die iberische Halbinsel besetzt hielten und danach nach und nach aus Europa verdrängt bzw. assimiliert wurden, gelangte es im 10. Jahrhundert wieder in das christliche Abendland, wo es ab etwa 1200 zu einem Standardlehrbuch der zur damaligen Zeit entstandenen Universitäten wurde. Die steigende Bedeutung des Almagest erklärt sich auch mit der wachsenden Bedeutung der Seefahrt, die möglichst exakte Methoden zur Ortsbestimmung auf See benötigte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die „Alfons’inischen Tafeln“, die – von König ALFONS X VON KASTILIEN („al Sabio“, der „Weise“, 1221-1284) in Auftrag gegeben und auf der Grundlage des Almagest berechnet - 1252 erschienen.

Die Sonnen-, Mond- und Planetentheorie des Almagest ist ohne Zweifel eine geniale und komplizierte mathematisch-geometrische Theorie ihrer scheinbaren Bewegungen von einem geozentrischen Standpunkt aus. Der physikalische Inhalt ist jedoch sehr gering und es war auch nicht unbedingt das Bestreben des Verfassers und seiner Vorgänger, eine „natürliche“ Erklärung dessen zu liefern, was die Bewegungen der Himmelskörper hervorruft (die Scholastiker haben suffizient die Widersprüche zur Aristoteles‘schen Weltsicht herausgearbeitet). Ausschlaggebend war vielmehr die Vorhersagekraft der Positionen am Himmel für die Zukunft und dieses Ziel wurde so gut erreicht, daß eine Falsifizierung der Theorie erst 1200 Jahre nach ihrem Erscheinen gelang. Keine andere Theorie, die von Menschen ersonnen wurde, hatte solange Bestand. Ein Grund dafür war, daß sich die Genauigkeit der Positionsbestimmung und die Genauigkeit der Vorhersage in der vorteleskopischen Zeit in etwa die Waage hielten (die säkularen Änderungen konnten durch Neujustierung der Parameter sehr gut beherrscht werden).  Erst die Beobachtungen des dänischen Astronomen TYCHO BRAHE (1546-1601) erreichten zu Ende des 16. Jahrhunderts eine Genauigkeit in der Positionsbestimmung der Himmelskörper, welche die Ptolemäische Theorie ernstlich ins Wanken brachte. Aus diesem Grund waren auch nicht irgendwelche Abweichungen zwischen beobachteten und gerechneten Positionen der Ausgangspunkt für eine „Neuordnung“ des Planetensystems durch NICOLAUS COPERNICUS (1473-1543), sondern das Streben nach einer logischen Vereinfachung und einer „physikalischen“ Erklärung der Planetenbahnen. Der berühmte europäische Gelehrte aus dem Ermland erkannte (niedergelegt in seinen „Commentariolus“ von 1515), daß sich die retrograden Planetenbewegungen viel einfacher erklären lassen, wenn man - wie ARISTARCH VON SAMOS (um 310-230 v.Chr.) - davon ausgeht, daß sich die Erde genauso wie alle anderen Planeten um die Sonne bewegt. Diese Idee (die sich zu seinen Lebzeiten natürlich in keiner Weise beweisen ließ) wurde seinerzeit in der Fachwelt durchaus mit Interesse aufgenommen (z.B. von GEORG JOACHIM RHAETICUS, eigentl. JOACHIM VON LAUCHEN (1514-1576) und ERASMUS REINHOLD (1511-1553), der auf der Grundlage des kopernikanischen Systems neue Planetentafeln („Tabulae Prutenicae“, zusammen mit Herzog ALBRECHT VON PREUßEN (1490-1568)) gerechnet hat, die aber nur geringfügig besser waren als die Alten nach dem Ptolemäischen System).

Selbst das 1543 erschienene Hauptwerk des Copernicus („De revolutionibus orbium coelestium“) wurde aufgrund seines mathematischen Charakters von seinen Zeitgenossen nur wenig beachtet, obwohl sich auch die katholische Kirche durchaus dafür interessierte (Papst PAUL DER III (1468-1549) ließ sich darüber im Vatikanischen Garten berichten). Ein Grund dafür war die „Kalendermisere“ (d.h. das Auseinanderlaufen von kirchlichen Feiertagen und Kalender aufgrund einer falschen Jahreslänge), deren Lösung immer akuter wurde und schließlich unter Einbeziehung kopernikanischer Ideen 1582 zur „Gregorianischen Kalenderreform“  führte.

Erst reformistische Kirchenlehrer wie PHILLIPP MELANCHTON (1497-1560) und MARTIN LUTHER (1483-1546) erkannten die weltanschauliche Brisanz des Heliozentrismus und versuchten, in dem sie Disputationen in den Universitäten verhinderten bzw. die kopernikanische Lehre ins Lächerliche zogen („Es ward gedacht eines neuen Astrologi, der wollte beweisen, daß die Erde bewegt würde und umbginge, nicht der Himmel oder das Firmament… „ Luthers Tischreden). In der katholischen Kirche wurde man dagegen erst im Zusammenhang mit GIORDANO BRUNO (1548-1600) und GALILEIO GALILEI (1564-1642) auf das Werk aufmerksam und setzte es nach eingehender Prüfung und unter Einhaltung der Kirchengesetzlichkeiten 1616 auf den Index der verbotenen Bücher (erst 1835 wurde es wieder daraus entfernt).

Der heute oft verwendete Begriff der „kopernikanischen Wende“ oder der „kopernikanischen Revolution“ geht auf den berühmten Königsberger Philosophen IMMANUEL KANT (1724-1804) zurück. Er bezeichnet damit den Umstand, daß man vor Copernicus nur die „Erscheinung“ sah, nicht das Ding an sich, also dasjenige, was hinter der Erscheinung steht. Die revolutionäre Erkenntnis, daß sich die komplizierten Planetenbewegungen auf eine einfache Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne zurückführen lassen, kennzeichnet einen Umdenkprozeß, der wahrhaft revolutionär ist und der das Tor aufstieß, das Wissenschaft im modernen Sinne erst möglich machte. THOMAS SAMUEL KUHN (1922-1996) spricht zu Recht von einem Paradigmenwechsel. So gesehen ist es kein Zufall, daß sich die Entwicklungen der Astronomie und der Physik zu Beginn des 17. Jahrhunderts nur in der Auseinandersetzung zwischen der geozentrischen und heliozentrischen Weltsicht verstehen lassen (man wollte endlich das „Wesen“ der Himmelserscheinungen ergründen und nicht nur ihre Bewegungen protokollieren). Wie die Geschichte weitergeht, ist bekannt. Was JOHANNES KEPLER (1571-1630) noch mit unendlichem Fleiß erarbeitete, konnte bereits ISAAK NEWTON (1643-1727)  aus ein paar als allgemeingültig erkannten Axiomen ableiten. Und mit diesen beiden Gelehrten beginnen genaugenommen die Forschungen in dem Wissensgebiet, das, wie bereits erwähnt, PIERRE SIMON DE LAPLACE (1749-1827) einmal als „Himmelsmechanik“ bezeichnen wird.  Heute spielen Fragestellungen, die sich auf die Dynamik gravitativ gebundener Systeme aus sehr vielen Massepunkten beziehen, eine große Rolle. Zu nennen sind beispielsweise Simulationen der komplizierten Bewegungsvorgänge von Sternen in kollidierenden Galaxien oder die Modellierung des „Verdampfens“ von Kugelsternhaufen, wobei Einzelsterne in das Halo von Galaxien gelangen. Gerade Fragen in Bezug auf die Langzeitstabilität kosmischer Objekte, die aus vielen Individuellen Einzelkörpern wie z.B. Planetensysteme, Sternhaufen bis hin zu Galaxien und Galaxienhaufen bestehen, markieren heute das Frontend himmelsmechanischer Forschungsprojekte. 

Himmelsmechanische Fragestellungen spielen aber auch in der Kosmogonie mittlerweile eine große Rolle, wo es u.a. um die Aufklärung der Prozesse geht, die aus einer protoplanetaren Gas- und Staubscheibe um einen neugeborenen Stern innerhalb bemerkenswert kurzen Zeiten Planeten entstehen lassen. Hier spielen auf einmal dissipative Kräfte wie z.B. die Reibung, eine große Rolle, die man sonst vernachlässigen kann. Viele Gleichungen müssen mit nichtlineare Termen ergänzt werden und sind analytisch nicht mehr auflösbar, so daß man zu komplexen numerischen Modellen greifen muß, die aber, und das ist die gute Nachricht, mit der heutigen Computertechnik ohne weiteres beherrschbar sind und schon zu vielen unerwarteten, aber durchaus plausiblen Ergebnissen in diesem sich rasch entwickelnden Wissensgebiet geführt haben. 

Die Erforschung der Planeten des Sonnensystems mit Raumsonden hat die einfache Vorstellung eines solchen Himmelskörpers als „Punktmasse“ (von dem die gesamte klassische Himmelsmechanik ausgeht) obsolet gemacht. Das Schwerefeld ausgedehnter Körper verrät z.B. viel über deren inneren Aufbau. Man kann etwas darüber in Erfahrung bringen, wenn man nur die Bahnen der sie erforschenden Raumsonden genügend genau vermißt und dann die Meßergebnisse entsprechend akribisch analysiert.

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch noch das Faktum, daß aufgrund der enormen Genauigkeitsanforderungen an die Steuerung interplanetarer Raumsonden deren Bahnen heute nicht mehr ausschließlich nach den Newtonschen Gesetzen berechnet werden, sondern auf der Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie. Genauer, mittels einer speziellen Lösung der Einstein’schen Gravitationsfeldgleichungen, die KARL SCHWARZSCHILD 1915 gefunden hat und die seitdem als Schwarzschild-Lösung bekannt ist. Gerade die Entdeckung sogenannter „relativistischer“ Himmelskörper wie Neutronensterne und Schwarze Löcher, hat auch die Himmelsmechanik dahingehend beflügelt, daß man in diesen Fällen die Bewegungsvorgänge im Bereich dieser Objekte und dieser Objekte selbst natürlich auch nur relativistisch, d.h. auf der Grundlage der Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, verstehen kann.



1 Kommentar:

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