Die mittlerweile routinemäßige Kartierung von Gensequenzen erlaubt es mit nie dagewesener Genauigkeit die phylogenetische (stammesgeschichtliche) Verwandtschaft von Lebewesen mittels einer Methode festzulegen, die der deutsche Biologe Willi Hennig (1913-1976) Anfang der 50ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entwickelt hat und die unter dem Namen „Kladistik“ bekannt geworden ist. Der wichtigste Begriff in diesem Zusammenhang ist der auf Ernst Haeckel (1834-1919) zurückgehende Begriff der Monophylie. Er besagt, vereinfacht ausgedrückt, daß sich die Entwicklungslinien aller Mitglieder einer monophyletisch genannten Gruppe (Taxon) von Lebewesen ausnahmslos auf genau eine gemeinsame Grundform zurückführen lassen - ihren „gemeinsamen Vorfahren“ (Last Common Ancestor, LCA). Das betrifft, um nur einige Beispiele zu nennen, alle Menschen und Menschenaffen (ihr gemeinsamer Vorfahr lebte vor ca. 7 Millionen Jahre), alle Säugetiere (LCA: 180 Millionen Jahre), alle Tiere mit Innenskelett (LCA: ca. 550 Millionen Jahre) und schließlich alle Mehrzeller (LCA: ca. 2 bis 3 Milliarden Jahre). In dieser Hierarchie ergeben sich aber auch Bereiche, die verwandtschaftlich nicht in dieses Konzept zu passen scheinen wie die Reptilien und die Vögel, die zwar eine gemeinsame Stammform besitzen, aber in der „klassischen“ Systematik als getrennte Taxa (hier Tierklassen) behandelt werden (man bezeichnet diese Art von „Fehleinordnungen“ Paraphylie). Vögel sind aber genaugenommen Nachkommen „gefiederter“ Dinosaurier und deshalb monophyletisch den Reptilien zuzuordnen. Aber das konnte Carl von Linné (1707-1778) natürlich noch nicht wissen, als er 1758 die von ihm entwickelte biologische Systematik einführte.
Die „klassische“ Methode zur Aufstellung von Stammbäumen beruht bekanntlich darauf, daß man nach typischen und eindeutigen Merkmalen sucht (man spricht genauer von homologen Merkmalen), die jeweils einer Taxa eigen ist. Mit der Entdeckung, daß der Phänotyp eines Lebewesens im Wesentlichen durch sein Genom festgelegt wird, ergab sich erstmalig die Möglichkeit, die Stammesgeschichte des Lebens auf der Erde anhand eindeutiger genetischer Merkmale zu rekonstruieren. Sie widerspiegeln Verwandtschaftsbeziehungen bekanntlich bedeutend besser als phänotypische Merkmale, da Gene genau die Entitäten darstellen, die bei der Fortpflanzung an alle Nachkommen weitergegeben werden und somit die Kontinuität des Lebens garantieren und in einem gewissen Sinn auch archivieren. Man denke hier nur an die „Biogenetische Grundregel“, wie sie 1866 von Ernst Haeckel formuliert worden ist. So läßt sich z.B. gentechnisch besonders gut das Auftreten mehr oder weniger auffälliger Mutationen über Artgrenzen hinweg verfolgen. Außerdem ist in diesem Zusammenhang noch auf das Konzept der „Molekularen Uhr“ hinzuweisen, denn dieses Konzept erlaubt es anhand von DNA-Sequenzierungen den ungefähren Zeitpunkt der Trennung einer Art in zwei neue Stammlinien (Bifurkation im Stammbaum) auch dann noch zu ermitteln, wenn es dafür keine gut datierten fossilen Belege gibt.
Kurz und prägnant läßt sich die moderne monophyletische Systematik vielleicht wie folgt beschreiben: Es sind nicht unbedingt die taxonomischen Gruppen von Lebewesen nahe miteinander verwandt, die sich in ihrem Phänotyp am meisten ähneln, sondern diejenigen, die in ihrem Genom die größten Gemeinsamkeiten aufweisen und die sich auf einen eindeutigen gemeinsamen Vorfahren in ihrem Stammbaum zurückführen lassen.
Wählt man als taxonomische Einheit die drei großen monophyletischen Domänen des irdischen Lebens, also die Archaea, die Bacteria und die Eucarya (Woese & Fox, 1977), dann müssen sie nach der reinen phylogenetischen Sichtweise auch einen gemeinsamen Vorfahren besitzen, der genetisch gesehen mindestens diejenigen „Gene“ umfaßt, welche alle Vertreter der drei großen Domänen gemeinsam besitzen. Sie entsprechen den sogenannten „plesiomorphen Merkmalen“ in der phylogenetischen Systematik nach W. Hennig. Diejenigen Gene und deren Merkmalsausprägungen, die erst später dazugekommen sind, nennt man im Unterschied dazu „apomorph“. Zwei besonders wichtige „plesiomorphe“ Merkmale der irdischen Lebenswelt sind beispielsweise der allen Lebewesen gemeinsame genetische Code sowie die Verwendung von ATP als „Energiewährung“ für fast alle endergonen biochemischen Reaktionen, die in einer lebenden Zelle ablaufen. Und auch der im Wesentlichen bei allen Vertretern der drei Domänen weitgehend gleiche biochemische Apparat der Proteinbiosynthese mit der Trennung von Transkription und Translation ist in diesem Zusammenhang zu nennen.
Es gibt aber ein bis heute noch nicht endgültig gelöstes Problem bei der Klärung der phylogenetischen Verwandtschaft und der gemeinsamen Abstammung der drei scheinbar gleichberechtigten Domänen des irdischen Lebens. Und das betrifft deren gemeinsame „Stammgruppe“. Sie ist nämlich als Taxa auf der Erde nicht mehr existent, weshalb es schwierig ist, ihre genetischen und physiologischen Eigenschaften beispielsweise anhand der gemeinsamen Merkmale aller rezenten Mikroorganismen zu rekonstruieren.
Was sich aber beim Vergleich bestimmter gemeinsamer Gensequenzen von Vertretern der drei genannten Domänen ergeben hat (insbesondere derjenigen, die für die Proteinbiosynthese von Bedeutung sind), ist die Erkenntnis, daß die Aufspaltung in Archaea und Eucarya zeitlich offenbar erst nach der Abspaltung ihres gemeinsamen Vorgängers von der Stammlinie der Bacteria erfolgt sein muß (Iwabe, Kuma, Hasegawa, Osawa, & Miyata, 1989). Darauf weisen gewisse Eigenheiten in der molekularen Struktur der rRNA hin, die eine Aufspaltung der „klassischen Bakterien“ in zwei deutlich unterscheidbare Domänen, Bacteria und Archaea, unumgänglich machten (Fox, Magrum, Balch, Wolfe, & Woese, 1977). Nach der kanonischen Sichtweise der Stammesentwicklung des Lebens auf der Erde sind die Eucarya (d.h. Zellen mit inneren, membranumhüllten Organellen sowie einem Zellkern) das Ergebnis einer symbiontischen Vereinigung eines Vertreters der Archaeen mit einem oder mehreren Bakterien. Dieser Vorgang, der Endosymbiose genannt wird, führt jedoch zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten bei der Einordnung in die phylogenetische Systematik, da sich je nach ausgewählten Genen zwangsläufig unterschiedliche Stammbäume ergeben.
Grundsätzlich lassen die eklatanten Unterschiede in der ribosomalen RNA der Bacteria und der Archaea erst einmal vermuten, daß sie aus einem gemeinsamen Bifurkationspunkt im Stammbaum des Lebens hervorgegangen sind, der sich mit der hypothetischen Stammgruppe aller heute auf der Erde lebenden Organismen und damit als root des universellen Stammbaums identifizieren läßt. Diese hypothetische Lebensform wird LUCA – Last Universal Common Ancestor genannt und soll vor mehr als 3.5 Milliarden Jahren quasi am Ende der Abiogenese gestanden haben, bis sich daraus die ersten Bakterien und Archaeen entwickelten. Von LUCA sind bis auf die Gene, die alle ihre Nachfahren noch gemeinsam haben, keinerlei Spuren mehr vorhanden. Trotzdem läßt sich durchaus etwas über die Natur dieser „Urform“ allen irdischen Lebens in Erfahrung bringen.
Aber war LUCA wirklich so etwas wie eine erste Spezies, aus der sich dann alle Folgenden entwickelt haben? Diese Frage dürfte nach neueren Erkenntnissen, die sich auch allesamt auf Gensequenzierungen stützen, eher verneint werden. Die Ursache dafür ist der sogenannte intertaxonische horizontale Gentransfer, der zu der Zeit, als LUCA die Erde bewohnte, offenbar weit verbreitet war. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß dieser „horizontale“, d.h. ungeschlechtliche Gentransfer über die Artgrenzen hinweg (wenn man damals überhaupt schon im modernen Sinn von Arten sprechen kann) erfolgte, was dazu führte, daß die „Wurzel“ des Stammbaums des Lebens wahrscheinlich eher einem Netzwerk glich, aus dem dann einzelne Stammlinien sprossen, von denen drei die heute noch existierenden Domänen bilden. LUCA ist nach diesen Überlegungen eher ein Sammelbegriff für eine Gruppe wahrscheinlich durchaus schon recht komplexer Zellen, die untereinander ihre Gene austauschten. Einige der Gene überdauerten die Zeiten (durchaus auch in modifizierter Form), andere gingen verloren. Daß aber alle heute noch existierenden Genome einen irgendwie gemeinsamen Ursprung haben müssen, zeigt sowohl die Universalität des genetischen Codes als auch die ausschließliche Verwendung von L-Aminosäuren bei der Proteinbiosynthese (Homochiraliät).
Der Erwerb von Erbsubstanz außerhalb der normalen Erbfolge wird in der Genetik als horizontaler Gentransfer bezeichnet. Die Entdeckung, daß solch ein Vorgang überhaupt möglich ist, hat die maßgeblich auf genetischen Merkmalen beruhende moderne Kladistik nicht gerade einfacher gemacht. Die Biologen kennen im Wesentlichen drei Mechanismen, wie eine Bakterienzelle „horizontal“ fremde Erbsubstanz aufnehmen und eventuell in ihr eigenes Genom einbauen kann. Der erste Mechanismus besteht darin, „nackte“ DNA-Bruchstücke aus der Umgebung durch die Zellmembran hindurch zu resorbieren und gegebenenfalls (wenn sie irgendwelche Vorteile bringen) zu übernehmen. Dieser Mechanismus wird als „Transformation“ bezeichnet und wird bei manchen Bakterien durch spezielle Kompetenzproteine sogar aktiv gefördert (Bakkali, 2013).
Ein weiterer wichtiger Mechanismus des Genaustauschs in der ansonsten weitgehend klonalen Welt der Bakterien und Einzeller ist die Konjugation (unter Verwendung von Sexpili, sehr schön bei Pantoffeltierchen (Paramecium) unter dem Lichtmikroskop zu beobachten). Dieser Vorgang ist besonders interessant, wenn er über Artgrenzen hinweg erfolgt, da damit die natürliche Erbfolge umgangen wird. Sie stellt somit eine Art von Parasexualität dar, die den Genpool einer Population sehr effektiv durchmischt und auf diese Weise relativ schnelle evolutionäre Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen ermöglicht. Als Stichwort soll hier der Begriff der „Antibiotikaresistenz“ genügen.
Beim dritten Mechanismus spielen bestimmte Viren, die sogenannten Bakteriophagen, die entscheidende Rolle. Mit ihrer Hilfe können virale, aber auch bakterielle Gene auf bzw. zwischen Bakterien übertragen werden, ohne daß sie selbst dabei auf irgendeine Weise in Kontakt treten. Der Fachbegriff hier ist Transduktion. Bakteriophagen (oder kurz „Phagen“ genannt) sind spezielle Viren, die sich auf Bakterienzellen als Wirtszellen spezialisiert haben. Was ihre Individuenzahl betrifft (~10^30), sind sie die häufigsten biologischen (jedoch nicht „lebenden“!) Objekte auf der Erde und wahrscheinlich stammesgeschichtlich parallel zu LUCA entstanden.
Nachdem ein Bakteriophage seine Erbsubstanz in eine Bakterienzelle injiziert hat, kommt es darin zu einer rasanten Phagenvermehrung, wobei es durch Zufall passieren kann, daß in eine Phagenhülle anstatt der zwangsweise replizierten Phagen-DNA ein Stück DNA des Bakteriums eingeschlossen wird. Befällt nun der freigesetzte Phage ein anderes Bakterium, dann gelangen Bakteriengene seiner ursprünglichen Wirtszelle in das Bakterium, was, wenn das Bakterium lebensfähig bleibt, einem horizontalen Gentransfer entspricht.
Erst in den letzten Jahrzehnten ist den Biologen bewußt geworden, welche große Bedeutung der horizontale Gentransfer für die Evolution des irdischen Lebens hat. So konnten allein mehr als 100 Gene im menschlichen Genom identifiziert werden, die offensichtlich von Bakterien stammen. Aber auch einige wenige Gensequenzen, die als typisch „menschlich“ gelten, konnten in insbesondere parasitär lebenden Bakterienarten (wie z.B. dem unangenehmen Gonorrhohe-Erreger Neisseria gonorrhoeae) gefunden werden. Horizontaler Gentransfer ist die einzige vernünftige Erklärung dafür.
Vergleiche der Gensequenzen einer ganzen Anzahl von Bakterien hat weiterhin ergeben, daß 6% bis 7% des bakteriellen Genoms auf den Import von Genen aus anderen Organismen zurückgeführt werden muß. Deshalb ist zu vermuten, daß gerade in den frühen Phasen der Abspaltung der drei großen Domänen von LUCA der horizontale Gentransfer evolutionsbiologisch von besonderer Bedeutung war. Das erschwert massiv die Rekonstruktion der Wurzel des Stammbaums des irdischen Lebens. Er scheint eher ein Knollengewächs als eine Pfahlwurzel zu sein…
Ein für die Beantwortung der Frage, wo und unter welchen Bedingungen die chemische Evolution des Lebens auf der Erde stattgefunden hat, wichtiger Punkt ist, ob sich nicht in den von LUCA geerbten Genen der rezenten Lebewesen irgendwelche Hinweise auf die Umgebungstemperatur konserviert haben, bei der diese Lebensform ihre optimalen Lebensbedingungen vorgefunden hat. Möglich ist das, weil sich, wie man schon länger weiß, extrem thermophile Mikroorganismen spezieller Enzyme bedienen, um z.B. effektive Reparaturmechanismen für die Erbsubstanz zu realisieren oder um ihren Metabolismus auch bei Temperaturen über 80° C stabil aufrecht zu erhalten. Und die Baupläne derartiger Enzyme findet man bekanntlich in den Genen.
Ob es sich nun bei LUCA um mehr hyperthermophile oder doch eher um mehr non-thermophile Organismen gehandelt hat, wird immer noch recht kontrovers diskutiert. Detaillierte Untersuchungen an der allen Lebensformen gemeinsamen rRNA- und Protein-Sequenzen weisen daraufhin, daß diese Urzellen mit höherer Wahrscheinlichkeit aus einer Umgebung mit vielleicht eher moderaten Temperaturen stammen (thermomesophil mit einem Wachstumsoptimum unter 50° C) und sich die ursprünglich vermutete Hyperthermophilie (Wachstumsoptimum zwischen 50° und 80° C) erst später an der Linie zu den Bakterien und (unabhängig davon) an der Linie zu den Archaea/Eucarya entwickelt hat (Whitfield, 2004). Dieser Übergang könnte u.U. erklären, warum das ursprüngliche RNA-Genom in das thermisch stabilere DNA-Genom (wie auch immer) überführt worden ist (Boussau, Blanquart, Necsulea, Lartillot, & Gouy, 2008). Aber das sind erst einmal nur theoretische Überlegungen, denn es ist auch heute noch völlig hypothetisch, wo und unter welchen Umweltbedingungen die chemische Evolution, die letztendlich zu LUCA geführt hat, stattfand. Als relativ plausible Orte der Abiogenese gelten (aber jeweils mit Abstrichen) hydrothermale Quellen in den Tiefen der Ozeane oder kleine „Tümpel“ im Bereich vulkanischer Inseln. Aber auch die Hypothese, die ersten Lebensformen könnten in den Poren von Wassereis entstanden sein, ist noch nicht aus dem Rennen. Das Problem besteht darin, daß sich das „Aussehen“ der Erde zu Beginn des Archaikums (Eo- und Paläoarchaikum) aufgrund kaum noch vorhandener, weitgehend unveränderter geologischer Formationen aus jener Zeit nur äußerst schwierig rekonstruieren läßt. Vor 3.8 Milliarden Jahren ist bekanntlich das Zeitalter des „Großen Bombardements“ gerade zu Ende gegangen, welches durch den Energieeintrag der auf die Erde in großer Zahl eingeschlagenen Meteorite zu stark erhitzten Ozeanen (lokal siedenden) geführt haben muß. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, daß die damalige Leuchtkraft der Sonne gegenüber heute um ca. 30% geringer war (Faint Young Sun Paradox, (Sagan & Mullen, 1972)), was natürlich beim Versuch einer Rekonstruktion der Klimageschichte des Archaikums zu beachten ist. Eine im Zusammenhang mit der Entstehung der ersten Mikroorganismen wie LUCA durchaus wichtige Frage ist deshalb, wie sich die Wassertemperatur des Urozeans bis zum Erscheinen der ersten (sicher) fossil nachweisbaren Lebensformen vor ~ 3.5 Milliarden Jahren entwickelt hat, denn die Umgebungstemperatur stellt ja einen wichtigen Parameter biochemischer Reaktionen dar. Wie neuere Untersuchungen am Buck Reef Chert (Südafrika) ergaben, lag zu dem genannten Zeitpunkt die Wassertemperatur mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits unter 40° C (Hren, Tice, & Chamberlain, 2009), während man zuvor von höheren Temperaturen ausgegangen ist. Die These, daß LUCA mesophil war, gewinnt damit an Glaubwürdigkeit, was aber nicht bedeutet, daß die Abiogenese vielleicht nicht doch bei höheren Temperaturen (z.B. im Bereich hydrothermaler Quellen wie im Wächterhäuser-Modell) stattgefunden hat.
Was waren das eigentlich für Organismen, die man heute unter der Bezeichnung LUCA zusammenfaßt? Wie muß man sich diese „letzten universellen gemeinsamen Vorfahren“ allen Lebens auf der Erde vorstellen, die ex cathedra am Anfang der drei großen Reiche des Lebens standen? Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit waren es prokaryontische Zellen mit einem im Cytosol schwimmenden ringförmigen Erbmolekül (ob RNA oder bereits DNA, läßt sich noch nicht eindeutig sagen), die sich chemoautotroph ernährten und in der Lage waren, Gene auch „horizontal“ untereinander auszutauschen. Man schätzt, daß zwischen 500 und 1000 Gene (gespeichert in DNA) notwendig waren, um ihnen ein autonomes Leben zu ermöglichen. Das bedeutet, daß LUCA bereits alle Schritte der Proteinbiosynthese (d.h. Transkription und Translation) und der Membranbildung (inklusive ATP-Synthese) beherrscht haben muß, um beispielsweise die Vielzahl der für einen funktionierenden Metabolismus notwendigen Katalysatormoleküle (Enzyme) fehlerfrei und auch entsprechend reguliert zu produzieren. Oder anders ausgedrückt: LUCA war alles andere als „primitiv“! Er hatte vielleicht sogar einen komplexeren Aufbau als die Einfachsten, heute in pflanzlichen und tierischen Zellen parasitär oder symbiontisch lebenden Bakterien (man denke z.B. an die sogenannten Mycoplasmen). Und es gibt durchaus einige Biologen, die begründbar vermuten, daß LUCA eine höhere Komplexität besessen haben könnte als die ersten „echten“ Bakterien und Archaeen, für deren Entstehung man dann so etwas wie eine reduktive Evolution unter veränderten Umweltbedingungen annehmen muß (Glansdorff, Xu, & Labedan, 2008). Aber das sind alles noch weitgehend hypothetische Überlegungen, die durch entsprechende Untersuchungen zu präzisieren oder gegebenenfalls auch als falsch zu verwerfen sind.
Ein weiterer Pfad, der zurück zu LUCA führt, ist die Evolution der sogenannten Stickstoffixierung (Raymond, Siefert, Staples, & Blankenship, 2004). Ihr Zweck ist es, den nahezu inerten Luftstickstoff für biochemische Reaktionen nutzbar zu machen. Dazu sind spezielle Enzyme notwendig (sogenannte Nitrogenasen), die unter massiven ATP-Verbrauch über drei Reduktionsschritte aus einem Stickstoffmolekül zwei Ammoniakmoleküle NH3 produzieren. Diese werden dann in weiteren Schritten u.a. zur Synthese von Aminosäuren benötigt. Formal ergibt sich folgende Reaktion
8H++8e-+N2→2NH3+H2
die vom Enzym Dinitrogenase katalysiert wird. Die Entwicklung dieses im Detail sehr komplexen Vorgangs muß bereits zu einer Zeit stattgefunden haben, wo es a) noch keinen freien Luftsauerstoff gab (Nitrogenasen werden in ihrer Funktion extrem stark durch Sauerstoff gehemmt) und b) die anorganisch verfügbaren Stickstoffquellen im Urmeer zur Neige gingen und damit das Leben gezwungen war, neue Stickstoffquellen zu erschließen. Es ist sehr gut möglich, daß sich die Fähigkeit der Stickstoffixierung bereits ganz am Anfang des Lebens aus der Notwendigkeit heraus entwickelt hat, die reichlich in der damaligen Erdatmosphäre vorhandenen Cyanide abzubauen und damit für den Urorganismus unschädlich zu machen (Fani, Gallo, & Liò, 2000).
Alle Theorien der Abiogenese gehen davon aus, daß die wesentlichen Schritte des Aufbaus biochemischer katalytischer Netzwerke innerhalb eines Confinements, d.h. in einer durch eine Zellmembran von der Außenwelt abgekapselten Raumes, stattgefunden haben muß. Eine derartige Zellmembran muß deshalb auch zur Grundausstattung von LUCA gehört haben. Bei Bakterien findet man zwei unterschiedliche Typen von Zellmembranen, die man als gram-negativ bzw. als gram-positiv (je nach dem, wie sie sich nach einer von Hans Christian Gram erfundenen Methode färben lassen) bezeichnet. Diese unterschiedlichen Färbeeigenschaften hängen mit einem jeweils unterschiedlichen Aufbau der Bakterienzellwand zusammen. Grampositive Bakterien zeichnen sich durch eine dicke Zellwand aus, die im Wesentlichen aus dem Peptidoglykan Murein besteht (Peptidoglykane sind Polysaccharidketten, die durch Oligopeptide quervernetzt sind). An diese vergleichsweise dicke Murein-Schicht schließt sich zuerst ein dünner periplasmatischer Raum und dann die ebenfalls recht dünne Plasmamembran an. Gramnegative Bakterien besitzen dagegen nur eine dünne Murein-Schicht, die den periplasmatischen Raum zwischen einer dünnen Außen- und einer dünnen Innenmembran trennt, wobei sich die Außenmembran von der Innenmembran chemisch signifikant unterscheidet. In beiden Fällen handelt es sich um Doppelmembranen, die durch das Murein eine gewisse Steifigkeit erhalten.
Von einer gewissen phylogenetischen Brisanz ist, daß die Archaeen – die zweite große Gruppe der Prokaryonten, die besonders extreme Lebensräume besiedeln (Extremophile) – eine chemisch völlig anders aufgebaute Zellmembran besitzen. Während in den Plasmamembranen der Bakterien und Eukaryonten die Fettsäuren über eine Ester-Bindung an Glycerol-Moleküle gebunden sind, findet man bei den Archaeen Glycerol-Diether oder sogar Bis-Glycerol-Tetraether (in Form einer einschichtigen Membran, Monolayer) sowie verzweigte Isopren-Einheiten anstatt einfacher Fettsäuren. Insbesondere Lipid-Monolayer sind nur bei Vertretern der Archaeen als Zellbegrenzungen bekannt. Es existieren aber auch Archaeen, die als Zellbegrenzung eine Lipid-Doppelschicht besitzen. Ansonsten gibt es funktionell zwischen den chemisch unterschiedlichen Zellmembranen der Bacteria/Eucarya und der Archaea keine wesentlichen Unterschiede. Beide Membrantypen erfüllen gleichermaßen ihren biologischen Zweck. Die Frage ist nur, wie sich der Umbau des Chemismus der Membranmoleküle entwicklungsgeschichtlich erklären läßt. Und hier liegen die Meinungen der Biologen noch weit auseinander. Es könnte sich z.B. um eine nachträgliche Anpassungsleistung an extreme Umweltbedingungen handeln, denn die meisten heute existierenden Archaeen sind zugleich auch extremophile Organismen.
Neuere Untersuchungen führten zu dem erst einmal überraschenden Ergebnis, daß die doppelmembranigen (gramnegativen) Bakterien mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Endosymbiose aus Bakterien mit nur einer Plasmamembran als Zellbegrenzung hervorgegangen sind.
Die Organisation und der Aufbau der doppelmembranigen Bakterien ähneln nämlich äußerst auffällig derjenigen mit nur einer Plasmamembran. Es scheint so, als ob sie sich von der Membran eines quasi einverleibten einmembranigen Bakteriums ableiten würde. Diese Annahme wird noch verstärkt durch den Umstand, daß die (photosynthesefähigen) gramnegativen Bakterien darüber hinaus auch noch ihren Photosyntheseapparat von den Costridia übernommen haben – der einzigen Familie einmembraniger Bakterien, die rezent noch einen solchen besitzen. Denn aufgrund der Komplexität selbst einfacher Formen der Photosynthese erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß die dafür essentiellen Gene über einen horizontalen Gentransfer in die Zellen gramnegativer Bakterienfamilien gelangt sein könnten.
Und dieser erst einmal phänomenologische Befund ließ sich schließlich anhand von Gensequenzierungen weiter erhärten. Sie zeigen am Beispiel der Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Proteinfamilien mit aller Deutlichkeit, daß sowohl der Stamm der Actinobacteria als auch der Costridia (beide überwiegend grampositiv) zum Genom der gramnegativen Bakterien beigetragen haben. Letztere sind demnach aus der Endosymbiose jeweils eines frühen Vertreters der beiden genannten Bakterienstämme hervorgegangen. Als Zeitpunkt der Entstehung der gramnegativen Bakterien und deren darauffolgenden enormen Diversifikation wird der Übergang vom Neoarchaikum zum Paläoproterozoikum (d.h. vor ~2,7 und 2,4 Ga) angenommen (Mahner, 2009).
Für LUCA bedeutet das, daß er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit noch eine „weiche“, amöbenartige (d.h. nicht durch Murein versteifte) Zellmembran besessen hat, die der Endozytose fähig war. Die Vermehrung könnte z.B. durch Knospung (inäquale Zellteilung, wie man sie noch heute bei manchen Bakterien findet, die auf diese Weise Exosporen bilden) erfolgt sein, aus der sich dann der komplizierte Apparat der symmetrischen Zellteilung entwickelte.
Zusammenfassend ergibt sich das Bild, daß das Netzwerk der Stammformen allen heutigen Lebens, LUCA genannt, verglichen mit der unbelebten Natur alles andere als „primitiv“ war. Das macht auch die Schwierigkeit aus, die Kluft zwischen unbelebter und belebter Natur, die nach der gängigen Lehrmeinung durch den immer noch kaum erforschten Prozeß der Abiogenese (chemische Evolution) zu überwinden ist, zu schließen. Das bedeutet aber nicht, daß das unmöglich ist. Die relativ kurze Zeitspanne, die dafür auf dem Planeten Erde benötigt wurde, weist auf eine (wenn auch noch weitgehend unbekannte) Prozeßfolge hin, die in dieser oder ähnlicher Form immer dann durchlaufen wird, wenn die Umgebungsbedingungen stimmen (was immer das auch heißen mag). Und das ist von größter astrobiologischer Bedeutung.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen