Dienstag, 22. September 2015

Leseprobe 7: Panoptikum interessanter Dinge und Begebenheiten



TB: Seite 482

Mitschurin hat festgestellt…
Die Lehre Lyssenkos ist aber nicht völlig auf dessen eigenem Mist gewachsen. Viele seiner Ideen gehen auf den großen Obstzüchter Iwan Wladimirowitsch Mitschurin (1855-1935) zurück, dessen praktische Erfolge (er entwickelte u. a. die Obstbaum-Propfung zur Perfektion) auch heute noch unbestritten sind. Nur dessen theoretische Überlegungen, die sich stark an Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) anlehnten und die von Lyssenko übernommen wurden, waren schlicht falsch. Über ihn haben sich leider nur einige Spottverse erhalten, die auch heute ab und an noch zitiert werden: „Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält, drum essen wir auf jeder Reise Marmelade eimerweise...“ Oder, als es in den Anfangsjahren der DDR nur wenig oder keine Butter zu kaufen gab, kursierte unter der Bevölkerung der Reim: „Mitschurin hat festgestellt, dass die Butter Gift enthält. Um das Volk halt zu gesunden, ist die Butter nun verschwunden...

Epigenetische Prozesse

Interessanterweise gibt es rund 40 Jahre nach Lyssenkos Tod doch Hinweise darauf, dass bestimmte erworbene Eigenschaften (z. B. Krankheitsbilder) unter gewissen Umständen an die Nachkommen weitergegeben werden. Die Funktionsweise dieser sogenannten epigenetischen Prozesse ist dabei durchaus an die Gene und deren Vererbungsmechanismen gebunden, aber nicht an die eigentliche genetische Information, die im DNA-Molekül hinterlegt ist. Ausschlaggebend sind hier spezielle epigenetische Faktoren, welche in der Lage sind, die Aktivität von Genen zu regulieren, indem sie diese oder Gruppen von ihnen in Bezug auf die Genexpression in der Zelle ein- oder ausschließen. Sie sind selbst nicht in der DNA lokalisiert, sondern in bestimmten Proteinen in den Chromosomen, genauer den Histonen. Diese Histone stellen quasi die „Spulen“ dar, um die sich ein DNA-Molekül im kondensierten Zustand windet. Werden diese „Spulen“ chemisch verändert, hat das entsprechende Auswirkungen auf die Genexpression. Gerät ein Lebewesen z. B. unter Stress, d. h. durch veränderte Umweltbedingungen, Nahrungsmangel oder der Einwirkung von Giftstoffen, dann können bestimmte Histone dauerhaft chemisch markiert werden und auf diese Weise Einfluss auf das Verhalten von Körperzellen nehmen, in dem sie gewisse Gene permanent ein- oder ausschalten. Es scheint so - und entsprechende Experimente belegen es mittlerweile - dass derartige epigenetische Marker durchaus an die Nachkommen weitergegeben werden können. Es gibt sogar begründete Vermutungen darüber, dass bestimmte Krankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit zu einem gewissen Teil epigenetisch bedingt sind. Deshalb ist die Erforschung der entsprechenden Mechanismen auch von großer gesundheitspolitischer Bedeutung. Für die Erb- und Evolutionsbiologie ist die Epigenetik ein neuer Ansatzpunkt zur Erklärung erbbiologischer Auffälligkeiten. Nehmen wir z. B. die Honigbiene, um mal ein Beispiel aus der Tierwelt zu bemühen. Bekanntlich sieht dieses Insekt im frühen Larvenstadium immer gleich aus. Diejenigen Larven, die von den Ammenbienen mit einem Gemisch aus Honig und Pollen gefüttert werden, entwickeln sich zu sterilen Arbeitsbienen. Die Larve hingegen, die mit Gelée royale (Weiselfuttersaft) gefüttert wird, ändert ihre Gestalt und entwickelt sich zu einer eierlegenden Bienenkönigin. Dabei sind die Gene der Arbeitsbienen und der Bienenkönigin völlig identisch. Es scheint so, dass die Nahrung - hier die Honig-Pollen-Mischung - zur expliziten Abschaltung bestimmter Entwicklungsgene führt. Der chemische Mechanismus, der insbesondere auf die Histone wirkt, nennt man Methylierung. Darunter versteht man das „Anhängen“ bzw. „Entfernen“ von Methylgruppen an bestimmten Histon-Proteine mit dem Effekt, dass sich damit die Genexpression steuern lässt. Und das Bemerkenswerte dabei ist, dass sich mit speziellen Pharmaka gezielt Einfluss auf diesen Vorgang nehmen lässt, was neue therapeutische Ansätze bei gewissen Krankheiten verspricht. Erste Erfolge gibt es beispielsweise bei der Erkennung von Krebszellen, bei denen die Gene abgeschaltet sind, welche das krankhafte Zellwachstum normalerweise verhindern. Weiterhin sind, wie man erst seit wenigen Jahren weiß, epigenetische Fehlsteuerungen für die Entstehung bestimmter immunologischer und neuronaler Erkrankungen sowie diverser Wachstumsstörungen von Bedeutung. Darunter fallen beispielsweise auch seltene Erkrankungen wie das Silver-Russel-Syndrom (eine spezielle Form der Kleinwüchsigkeit), die man unter dem Begriff Genomic Imprinting (genomische Prägung) zusammenfasst.
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