"Forscher rätseln über neue Naturkraft" orakelte der "Spiegel" am 7. April auf seiner Online-Seite. Der Artikel schien interessant zu sein, denn über richtig große Entdeckungen auf dem Gebiet der Hochenergiephysik war in letzter Zeit wahrlich nicht viel zu hören und zu lesen. Alle warten, daß der LHC (Large Hadron Collider) am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf langsam richtig Fahrt aufnimmt - aber da wird man wohl noch ein bischen warten müssen. So hat sich also ein Spiegel-Redakteur erst einmal auf eine vorab veröffentlichte Mitteilung des Fermilab gestürzt (siehe hier), um etwas Honig daraus zu saugen. Um was geht es eigentlich:
Physiker (eine ganze Menge, wie man dem Autorenverzeichnis entnehmen kann), die an Experimenten am Tevatron-Beschleuniger des Fermilab in Batavia beteiligt waren (er wurde bekannt durch die Entdeckung des Top-Quarks im Jahre 1995 und erreicht eine Schwerpunktsenergie von 1.96 TeV), haben eine vorerst nicht erklärbare 3σ-Abweichung in ihren Meßwerten gefunden (σ ist die sogenannte Standardabweichung), die u.U. auf ein neues Elementarteilchen außerhalb des Standardmodells hinweist. Unser Autor spricht in bester Fukujima-Manier von einem "völlig unerwarteten Effekt" und daß es sich dabei "um eine der bedeutendsten physikalischen Entdeckungen der vergangenen 50 Jahre" handeln würde.
Im Tevatron läßt man gewöhnlich Protonen mit Antiprotonen kollidieren. Dabei entstehen Unmengen verschiedenster Elementarteilchen, deren Zerfallscharakteristiken in riesigen Detektoren (in diesem Fall dem CDF - "Collider Detector at Fermilab") akribisch ermittelt werden. Das ist ein äußerst schwieriges Geschäft, da quasi 1.7 Millionen Protonen-Antiprotonen - Kollisionen pro Sekunde in Echtzeit erfaßt und nach bestimmten Kriterien rund 100 davon zur Detailanalyse im Computer gespeichert werden müssen (ja, die Zeit der Photoplatte und der Wilson-Kammer sind vorbei). In dem genannten Experiment hatte man es auf eine spezielle Art von Ereignissen abgesehen, die nur selten auftreten und die man Dibosonen-Ereignisse nennt. Sie kommen in drei Varianten vor, in Form von W+W- -Paaren, von W+-Z0 -Mischungen und in Form der ganz seltenen Z0Z0-Paare (Letztere spielen in dem genannten paper keine Rolle). Dabei bezeichnen W+, W- und Z0 die sogenannten intermediären Bosonen, die bei der schwachen Wechselwirkung respensive "radioaktiver Zerfall" (z.B. von 131-Jod und 137-Cäsium) eine Rolle spielen. Diese Paarungen existieren nur ganz kurz und zerfallen in Jets aus Quarks (die wiederum weiter zerfallen etc.) und Leptonen sowie in einen Leptonen-Neutrino-Jet. Es entstehen also eine riesige Menge von Teilchen, die man detektieren muß, um etwas über die Eigenschaften der Dibosonen zu erfahren. Insbesondere ihre Masse ist dabei von großem Interesse. Um sie zu ermitteln, muß man zuvor die sogenannte "invariante Masse" der beim Zerfall der Dibosonen (die man semileptonisch nennt) entstehenden Jets aus den Meßwerten bestimmen. Das ist bei der zu verarbeitenden Datenmangen ein riesiger rechnerischer Aufwand, der letztendlich zu einem Diagramm führt, in dem man die gesuchte Masse als "Peak" ablesen kann:
In unserem Zusammenhang ist nur von Interesse, daß es offensichtlich bei einer Energie von ~150 GeV eine Resonanz zu geben scheint, die es zu interpretieren gilt (nur als Hinweis, es kann sich dabei keinesfalls um das gesuchte Higgs-Boson handeln). Die rote Kurve ist die Kurve, die man aus der bekannten Physik heraus bereits vollständig erklären kann. Aber an dem blauen Buckel scheiden sich die Geister. Bei einem statistisch signifikanten Signal im 3σ-Bereich (je höher ein Sigma-Wert ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Werte "echt" sind und keine irgendwie gearteten Ausreißer) kann es sich um einen Hinweis auf ein neues Teilchen handeln - muß es aber nicht. Ein 3σ-Signal sollte zumindest Aufmerksamkeit erregen (was es hier auch tat - denn solche Abweichungen sind zwar selten, kommen aber ab und zu mal vor). Erst bei einem 5σ-Signal kann man aber sicher sein, wirklich etwas gefunden zu haben. Es gibt nun zwei Möglichkeiten - entweder der Peak flacht sich bei Folgeexperimenten ab (was mit Hilfe des LHC in Genf ziemlich schnell zu überprüfen wäre), oder das Signal erhärtet sich - was dann einer wirklichen Entdeckung gleichkommen würde. Für eine seriöse Wertung ist es jedenfalls m. E. noch viel zu früh.Warum man gerade jetzt eine 3σ-Abweichung an die große Glocke gehangen hat, kann auch damit zu tun haben, daß das Tevatron wegen Budgetkürzung kurz vor dem "aus" steht. Eine aufsehenerregende Entdeckung könnte vielleicht dessen Gnadenfrist unerwarteterweise noch etwas hinauszögern... Aber ich denke, ein anderer Gesichtspunkt ist wichtiger. Solch ein paper muß natürlich Hand und Fuß haben, bevor man es der wissenschaftlichen Community kund tut. Und hier spielt die Suche nach dem Higgs-Boson eine große Rolle. Wenn der Effekt echt ist, dann würde er garantiert auch in den zukünftigen Experimenten mit dem LHC auftauchen - und dann stellt sich irgendwann einmal die Prioritätenfrage - "Wer hat zuerst...?". So gesehen ist eine Vorab- Veröffentlichung besser als keine Veröffentlichung. Man sollte die Geschichte deshalb weiter verfolgen, denn vielleicht ist die "Beule" in der Kurve doch ein erster experimenteller Hinweis auf eine Physik jenseits des Standardmodells.
Doch nun zurück zum Spiegel-Online-Artikel. Er sagt erstaunlich wenig über die Entdeckung selbst aus, die er zu beschreiben gedenkt (hier lohnt es sich nur das Zitat von Christopher Hill zu zitieren "Niemand weiß, was es ist"). Dagegen verliert er sich in die Aufzählung der vier Grundkräfte des Standardmodells und einer volkstümlichen Erklärung des Higgs-Mechanismus zur Entstehung der trägen Masse. Interessanter sind dann schon die dazugehörigen Diskussionsbeiträge im Forum.
Der Leser "Kernkraft, Nein Danke" schreibt z.B. sinnigerweise
"Man sollte alle Experimente, die mit Kernkraft (egal ob schwach oder stark) zu tun haben, verbieten. Ich hoffe, dass bei einem Wahlsieg der Grünen solche Anlagen sofort vom Netz genommen werden!"
Ich vermute mal, er ist nicht ernst gemeint und soll so etwas wie Ironie darstellen. Aber wirklich sicher kann man sich da nicht sein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen