Mittwoch, 27. November 2013

Was geschah „nach dem Tag“ vor 443 Millionen Jahren?


Das Extinktionsereignis am Ende des Ordoviziums ist durch eine Eiszeit („Hinurtische Eiszeit“) und einer damit verbundenen Meeresspiegelabsenkung gekennzeichnet. Während dieser Übergangsperiode zum Silur sind etwa 85% der Arten, 60% der Gattungen und 26% der Familien aller meeresbewohnenden Arten ausgestorben. Die Hypothese, daß der Auslöser ein Gammablitz war – und das muß vorangestellt werden – ist frappierend, aber wird geologisch und paläontologisch genausowenig gestützt wie ein halbes Dutzend anderer Erklärungsmodelle. Für die meisten Paläontologen erscheint sie zu exotisch, um von ihnen beachtet zu werden. Trotzdem kann sie recht gut, auf entsprechende Modellrechnungen gestützt, das Geschehen vor 443 Millionen Jahren erklären. 

Also folgendes ist denkbar: Ein Gammastrahlungsblitz aus einer Quelle, ca. 6500 Lichtjahre von der Erde entfernt, illuminiert für ca. 10 Sekunden die Erdatmosphäre mit einem Energieeintrag von ~ 100 kJ pro Quadratmeter (d.h. dem rund 10-fachen der gewöhnlichen Sonneneinstrahlung). Wenn das heute passieren würde, müßte man schon aufgrund der begleitenden UV- und optischen Strahlung mit einer sicheren Erblindung rechnen, wenn man zufällig in diesem Moment in Richtung des Gammablitzes schaut. An unbedeckten Körperstellen würde man aufgrund der verstärkten UV-Strahlung zumindest eine leichte oberflächlichen Rötung, ähnlich dem eines leichten Sonnenbrandes, bemerken.

Vor 443 Millionen Jahre erschien in diesem denkbaren Szenario der „Blitz“ irgendwo innerhalb des südlichen Polarkreises, also grob gesagt, in der Nähe des Südpols der Erde. Aufgrund der für kurzwellige Röntgen- und Gammastrahlung quasi undurchlässigen Atmosphäre erreichen beide Strahlungskomponenten die Erdoberfläche nicht. Ihre gesamte Energie wird durch Ionisations- und Dissoziationsprozesse aufgezehrt, d.h. sehr viele in der oberen Atmosphäre enthaltenen Moleküle – insbesondere das Ozon – werden dabei zerstört, in dem sie in ihre atomaren Bestandteile zerlegt werden. Diesen Vorgang nennt man Photodissoziation. Innerhalb von wenigen Sekunden ändert sich auf diese Weise die Atmosphärenchemie der Stratosphäre. Insbesondere sind die Gammaphotonen in der Lage, die extrem haltbaren Dreifachbindungen zwischen den Atomen des Stickstoffmoleküls aufzubrechen, was kurzzeitig zu atomaren Stickstoff führt. In dem er anschließend mit atomaren und molekulare Sauerstoff reagiert, entstehen in großer Menge Stickoxide wie NO und NO2 mit gravierenden Auswirkungen in der Folgezeit. 

Die etwas zeitversetzt nach dem Gammastrahlenblitz eintreffenden Ultra-hochenergetischen kosmischen Strahlen (hauptsächlich Protonen) produzieren sogenannte „Luftschauer“. Das sind sekundäre Teilchenströme, die hauptsächlich aus Myonen (ein „schwerer“ Verwandter des Elektrons) bestehen und die Erdoberfläche erreichen. Sie erhöhen zwar ein wenig den „natürlichen“ Strahlungsuntergrund. Sollten aber ansonsten kaum zu biologischen Schäden führen. Andererseits schädigen sie aber weiter die obere Atmosphäre, in dem sie dort u.a. durch Spallationsprozesse verschiedene Radionukleide erzeugen.

Gravierende biologische Auswirkungen dürfte erst einmal der Verlust des natürlichen Schutzschildes vor der solaren UV-Strahlung gehabt haben. Insbesondere die in den oberen lichtdurchfluteten Wasserschichten lebenden planktonischen Organismen (darunter z.B. auch die Larvenformen der Trilobiten) waren plötzlich dieser Strahlung ausgesetzt, was ihrer Lebenserwartung sicherlich nicht dienlich war. Das erklärt dann auch das plötzliche Verschwinden großer Gruppen epipelagialisch lebender Organismen wie Graptolithen, Acritarchen und verschiedene Kopffüßer aus den damals abgelagerten Meeressedimenten. Das betrifft auch alle nicht-benthischen Trilobiten, die auch als adulte Tiere in oberflächennahen Wasserschichten lebten. Eine verstärkte UV-Strahlung kann deshalb relativ gut erklären, warum benthische und in größeren Wassertiefen lebende Organismen erst einmal kaum vom Massenaussterben betroffen waren.

Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Man vermutet, daß die rapide Anreicherung der Atmosphäre mit Stickoxiden, insbesondere, zu einer starken Abkühlung der südlichen Hemisphäre geführt hat, der dann auch die im Schelfbereich der Kontinente lebenden Arten zum Opfer gefallen sind. 

Stickstoffdioxid ist ein rotbraunes Gas, welches sehr effektiv Sonnenstrahlung absorbieren kann. Es verhindert bei entsprechend hoher Konzentration, daß Sonnenlicht im gewohnten Maße die Erdoberfläche erreicht und dort zuerst den Boden und dann die unteren Luftschichten erwärmt. Eine Anreicherung der oberen Troposphäre und der Stratosphäre mit diesem Gas und dessen Tendenz, sich in den polnahen Bereichen zu konzentrieren, soll dann zu einem Temperatursturz a la „Nuklearer Winter“ geführt haben (man schätzt um ~ 5°). Das Ergebnis war eine schnelle Vereisung der Südpolgebiete (zu jener Zeit lag dort „Gondwana“, genauer die heutige Sahara sowie Teile des heutigen Südamerika und Saudi-Arabiens), die mit einem entsprechenden Absinken des Meeresspiegels verbunden war. Man spricht deshalb auch von der „hirnantischen“ oder Saharavereisung. Obwohl die Vergletscherung vergleichsweise nur wenig Fläche einnahm, führte ihr plötzliches Eintreten aus einer Zeit relativ hoher Temperaturen zu einem derart schnellen Meeresrückgang an den Schelfen, daß rund 70% aller bis dahin bekannten Korallengattungen ausstarben. Andererseits hielt sich die Vereisung auch nicht sehr lange, denn ihr folgte quasi genauso plötzlich eine Warmzeit. Man erkennt das an einer schnellen Regression der Meere und dem genauso schnellen Wiederaufbau von Korallenbänken und Riffen in den nun neu überfluteten Kontinentalschelfen.

Der Meeresrückgang hatte zur Folge, daß sich das großräumige Strömungsmuster der Ozeane rapide veränderte. Sauerstoffreiches Wasser gelangte sogar in die Tiefsee und die verstärkt auftretenden Niederschläge schwemmten Nährstoffe in die Meere (z.B. ausgewaschene Nitride aus der Atmosphäre), was zu massiven Algenblüten und nach ihrem Absterben zur Konzentration von toxischen Stoffen in den Flachwassergebieten und oberen Wasserschichten führte. Die Lebewesen, die bis dato noch nicht ausgestorben waren, paßten sich an die nun kühlen und sauerstoffreichen Bedingungen an, bis die Eisschilde wieder zu schmelzen begannen. Mit steigender Erwärmung nahm der Sauerstoffgehalt der oberen Meeresschichten wieder ab und die ehemals an kalte, sauerstoffreiche Bedingungen angepaßten Tiere starben in einer zweiten Aussterbewelle aus.

Dieses Szenario kann relativ gut das Muster der Massenextinktion an der Ordovizium-Silur-Grenze erklären. Aber auch hier gibt es Detailprobleme, die damit nicht so ohne weitere lösbar sind. Auch fehlen noch direkte Beweise für einen Gammablitz als Auslöser. Das könnten bestimmte Nuklide sein, die damals entstanden sind. Da sie aber meist kurze Halbwertszeiten hatten, sind sie wohl auch mittlerweile ausgestorben.

In diesem Zusammenhang ist eine C14-Anomalie von Interesse, die man in ca. 1240 Jahre alten Holzresten gefunden hat. Sie koinzidieren mit einer plötzlichen Zunahme des Isotops Be10 in genauso alten Eisbohrkernen aus der Antarktis. Es kann deshalb sein, daß unsere Erde erst vor kurzem, d.h. um das Jahr 774 / 775 herum, von einem (harmlosen) Gammablitz getroffen wurde. Da es aus dieser Zeit keine expliziten Berichte über eine Supernova gibt, ist die These, daß diese Anomalien genau eine derartige Ursache haben, nicht ganz von der Hand zu weisen. Heute hätte ein Gammablitz gleicher Intensität bereits weitreichende Folgen – denn er könnte die Elektronik von Satelliten zerstören oder zumindest beeinträchtigen. Die technische Entwicklung hat uns in dieser Hinsicht auf jeden Fall verwundbarer gemacht…


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