Donnerstag, 19. November 2015

Lesestoff: Vom Quantenvakuum über den Cargokult zur Kleinwüchsigkeit und was sie mit dem Halleyschen Kometen zu tun hat...


Die Entstehung unseres Universums aus dem Quantenvakuum

Dass die Idee, dass unser Universum aus einem quasi zeitlosen Quantenuniversum (vielleicht zusammen mit vielen anderen) durch so etwas wie eine Vakuumfluktuation hervorgegangen sein könnte, nicht ganz von der Hand zu weisen ist, konnte 1973 bereits Edward Tryon zeigen. Ihm fiel etwas auf, was bereits zwei Jahrzehnte vorher Pascual Jordan (1902-1980) aufgefallen war: Ein Kosmos mit einer flachen (d. h. euklidischen) Geometrie besitzt die Gesamtenergie Null. In diesem Fall ist nämlich die Summe aller Einzelenergien der Teilchen, die den Kosmos ausmachen, genau so groß wie der Betrag ihrer wechselseitigen Gravitationsenergien (die bekanntlich ein negatives Vorzeichen besitzen). Wenn das aber der Fall ist, dann kann man sich die Heisenbergsche Energieunschärferelation hernehmen (sie lautet, dass das Produkt aus Energie und Zeit immer größer oder gleich einer speziellen Naturkonstante, dem Planck’schen Wirkungsquantum, sein muss) und wie folgt argumentieren: Je mehr sich die Gesamtenergie des Universums dem Wert Null nähert, desto länger erlaubt die Unschärfebeziehung die zeitliche Existenz dieser Fluktuation. 


Ist der Energiewert sogar exakt Null, dann wird die dazugehörige Quantenfluktuation („Universum“) ewig existieren. Überlegungen dieser Art nähren die Vermutung, dass es auch jenseits des Urknalls ein Universum gibt, ein Quantenuniversum - vielleicht ohne Zeitlichkeit, mit mehr räumlichen Dimensionen und der Potentialität, aus sich heraus ganze „klassische“ Universen entstehen zu lassen, die dann wiederum so etwas wie ein Multiversum bilden. Wie gesagt, die Physik und Mathematik sprechen nicht dagegen. Aber auch hier steht die Frage nach der Überprüfbarkeit - und die dürfte schwierig werden, denn wir sind kausal in „unserem“ Universum gefangen. Das Einzige, was in dieser Hinsicht vielleicht bleibt, ist die Stringenz einer zukünftigen Theorie, die einen genau definierten, aber prinzipiell nicht überprüfbaren Anfangszustand postuliert. Wenn sie plausibel und auf der Grundlage der Naturgesetze logisch und nachvollziehbar erklärt, was vor 13,7 Milliarden Jahren geschehen sein muss, damit sich ein Universum voller Galaxien, Sterne - und Leben bis hin zur Komplexität des Bewusstseins und der Intelligenz bilden konnte, dann kann man auch den Bedingungen, denen solch eine Theorie zugrunde liegt, vertrauen, ohne sie direkt überprüfen zu können. Aber diesen Status hat noch keine einzige der bis heute vorgeschlagenen Quantengravitationstheorien erreicht. 

Cargo-Kult-Wissenschaften

Das Problem, welches sich hier durchaus ernsthaft stellt, hat der berühmte Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918-1988) in seinem durchaus lesenswerten Buch „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman“ in der Art kritisch hinterfragt, dass es sich bei einer Wissenschaft, die sich außerhalb der Möglichkeiten sinnvoller experimenteller oder beobachterischer Überprüfung bewegt, eigentlich um keine „echte“ Wissenschaft, sondern um eine Art „Cargo-Kult-Wissenschaft“ handelt. Das trifft für einige Aspekte der Kosmologie (ich denke da z. B. an das „ekpyrotische Universum“ nach Steinhardt und Turok, das als Grundlage die noch nicht verifizierte Stringtheorie in Form deren Verallgemeinerung auf „Branen“ verwendet) durchaus zu, weshalb man sie auch nicht unbedingt zu ernst nehmen, sondern eher als Hypothese, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, betrachten sollte. Gerade populärwissenschaftliche Darstellungen des Gegenstandes vermitteln scheinbar eine Gewissheit, die in dieser Weise aber gar nicht besteht. Kosmologie zu betreiben, ist ein schwieriges Geschäft, bei dem es selbst für einen Insider nicht einfach ist, harte Fakten von reinen Spekulationen zu trennen. Schon Lew Dawidowitsch Landau (1908-1968) wusste 1962 über die Kosmologen zu berichten: „Kosmologen sind oft im Irrtum, aber nie im Zweifel“, womit er wohl den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Doch zurück zum Begriff der „Cargo-Kult-Wissenschaften“, von denen einige Aspekte durchaus auch auf manche Mainstream-Forschungsfelder zutreffen. Aber eben nur manche. Echte Hardcore-Cargo-Kult-Wissenschaften sind nämlich von Blödsinn kaum oder überhaupt nicht zu unterscheiden und werden deshalb von ernsthaften Wissenschaftlern nicht verfolgt. Auf mindestens drei bin ich, wie der aufmerksame Leser sicherlich festgestellt hat, bereits eingegangen: die Höllentopographie, die Astrologie und die Homöopathie. Alle diese „Fachgebiete“ nehmen in Anspruch, wissenschaftlich zu arbeiten. 

Cargo-Kult

Und doch ist es bei näherer Betrachtung bloß Blödsinn, was sie produzieren. Gut, also was ist überhaupt „Cargo-Kult“, auf den sich Richard Feynman auf seiner Abschlussrede am Caltech (California Institute of Technology) im Jahre 1974 explizit berufen hat? Wer einmal den durchaus eindrucksvollen Film „Erinnerungen an die Zukunft“ auf der Grundlage des gleichnamigen Buches Erich von Dänikens gesehen hat (hier handelt es sich um verfilmte Cargo-Kult-Wissenschaft), wird sich vielleicht an die Eingangsszene erinnern. 


Da werden Südseeinsulaner gezeigt, die neben aus Holz und Stroh gebauten Flugzeugattrappen sitzen und sehnsüchtig auf die Militärflieger warten, die ihnen während des zweiten Weltkrieges die eine oder andere Errungenschaft der westlichen Zivilisation gebracht haben. Damals landeten und starteten regelmäßig Flugzeuge von schnell angelegten Feldflugplätzen und sie sahen, wie Schiffe an- und ablegten und Dinge mitbrachten wie Schokolade, nützliche Werkzeuge, Radios und Funkgeräte, die sie so zuvor noch nie gesehen hatten. Doch dann war der Krieg vorbei und das Militär zog ab. Die Flugzeuge landeten nicht mehr, und es legten auch keine Schiffe mehr an. Die Lieferungen blieben aus, und die Insulaner vermissten all diese für sie erstaunlichen und nützlichen Dinge. Also bauten sie sich Kopfhörer und Mikrophone aus Holz, setzten sich in Bambushütten und taten so, als würden sie über Funk mit den Flugzeugen Kontakt aufnehmen. Sie stellten sich auf verwaiste Landebahnen und gestikulierten mit hölzernen Paddeln, um die Flugzeuge, die nicht kamen, einzuweisen. Sie machten alles genauso, wie sie es bei den Soldaten gesehen haben – zwar mit Erwartung, aber ohne Erfolg. Denn die Flugzeuge landeten nicht mehr und auch Schiffe ließen sich nicht mehr blicken. Diese Art von „Kult“ wird seitdem von den Ethnologen „Cargo-Kult“ genannt. Erich von Däniken wollte damit zeigen, wie primitive Völker auf die Ankunft von „Außerirdischen“ reagieren, die er für eine Vielzahl von „Götterkulten“ rund um den Erdball verantwortlich machte. Richard Feynman nutzte diesen Begriff, um damit pseudowissenschaftliche Konzepte zu bezeichnen, die sich bemühen, nach außen seriös wissenschaftlich zu wirken, aber sich bei genauerem Hinsehen als Blendwerk erweisen. Ihre Repräsentanten mögen zwar in weißen Laborkitteln daherkommen, was sie aber machen, ist das Gleiche wie die Südseeinsulaner: sie warten auf Flugzeuge, die nie ankommen. Nicht nur in den Naturwissenschaften ist es wichtig zu vermeiden, sich selbst und andere zu täuschen, in dem man seine Ergebnisse frisiert oder dem Zeitgeist anpasst; in dem man vergisst, auf die Dinge hinzuweisen, die gegen die veröffentlichten Forschungsergebnisse sprechen oder in dem man Hypothesen zu Theorien stilisiert, die sie nicht sind. Und man muss immer bereit sein, seine Forschungsergebnisse in die Tonne zu kloppen, wenn sie sich – so schön sie auch sein mögen – letztendlich als falsch erweisen. Nichtdestotrotz ist der gegenwärtige Wissenschaftsbetrieb nicht gegen Cargo-Kult gefeit, wie einige Wissenschaftsskandale der jüngeren Vergangenheit deutlich gemacht haben. Und ob man manche Themen der „Gender Studies“ nicht auch dazu zählen sollte, soll an dieser Stelle offen bleiben. Wenn Richard Feynman noch leben würde, hätte er sicherlich auch einige Ansichten der gegenwärtigen „Klimawissenschaften“ als „Cargo-Kult-Wissenschaft“ entlarvt, denn gerade bei ihnen zeigt sich die enge Verflechtung zwischen Wissenschaft und Politik, die hier, vermittelt durch staatliche Forschungsgelder, so etwas wie eine Symbiose eingegangen sind. Man erkennt das z. B. daran, dass Studien, die nicht die Erwartungshaltung befriedigen (menschengemachter Klimawandel), schnell von anderen Wissenschaftlern (oder Politikern) verworfen oder ignoriert werden, anstatt sie nach den Methoden der Wissenschaft ergebnisoffen zu falsifizieren oder, wenn das nicht gelingt, sie als augenscheinlich richtig anzuerkennen. 

Der Piltdown-Mensch

Eine der berühmtesten wissenschaftlichen Fälschungen der Wissenschaftsgeschichte war bekanntlich der „Piltdown-Mensch“. Seine 1912 gefundenen Schädelfragmente galten lange Zeit als der „missing link“ zwischen den Affen und den Menschen, bis sie 1953 als relativ gut gemachte Fälschung entlarvt werden konnte. Zuvor, im Jahre 1856 wurde ein primitiver Menschenschädel im Neandertal bei Düsseldorf entdeckt, wobei gemutmaßt wurde, dass die Wiege der Menschheit in Europa gelegen hat. Diese in den Zeitgeist passende These wurde obsolet, als man in Südostasien ein offensichtlich viel älteres Urmenschenskelett fand. In gebildeten Kreisen begann man sich Ende des 19. Jahrhunderts durchaus mit der von Charles Darwin (1809-1882) vertretenen Theorie, dass Mensch und Menschenaffe einen gemeinsamen Vorfahren besitzen (gern missdeutet als „der Mensch stammt vom Affen ab“), anzufreunden. Deshalb wurde jeder Fund von prähistorischen Menschenknochen als eine Art Sensation aufgefasst und der Finder konnte sich hoher wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reputation sicher sein. Ein solcher Fund wurde 1912 in einer Kiesgrube bei dem Dorf Piltdown in der Grafschaft Sussex (England) gemacht, und zwar von dem Amateur-Archäologen Charles Dawson (1864-1916). 


Dieser Fund bestand aus einem Schädelfragment, einem Unterkieferknochen und einer Anzahl von Zähnen. Eine Rekonstruktion ergab ein altertümlich ausschauendes und mehr einem Menschenaffen ähnelndes Wesen, welches den wissenschaftlichen Namen Eoanthropus dawsoni erhielt. Dieses Fossil wurde eingehend untersucht und für echt befunden, und man war als Engländer stolz, dass der „Mensch der Morgenröte“ offensichtlich Brite war. Diese „Art“ spielte in der anthropologischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion der damals noch recht übersichtlichen Stammesentwicklung des Menschen. Zwar äußerten einige Wissenschaftler von Anfang an gewisse Zweifel, insbesondere im Vergleich zu Neandertaler-Schädeln, die aber von den englischen Forschern weitgehend ignoriert wurden. 1953 erkannten bei einer Reinspektion der Knochen der Archäologe Kenneth Oakly und seine Kollegen, dass die Fundstücke von verschiedenen Orten stammten und an die Umgebung der Kiesgrube bei Piltdown angepasst worden sind. Der Schädel war ein Menschenschädel aus dem Mittelalter, der Unterkiefer war ein etwa 500 Jahre alter Unterkiefer eines Orang Utans und die Zähne gehörten einst einem Schimpansen. Die Knochen und Zähne waren künstlich so präpariert, dass sie wie altertümliche Knochen aussahen. Außerdem wurden Veränderungen derart vorgenommen, dass verräterische Merkmale gar nicht erst sichtbar wurden.



Im Allgemeinen wurde die Entlarvung des Piltdown-Menschen von der Forschergemeinde mit Erleichterung aufgenommen, da dadurch einige unerfreuliche Kontroversen beendet werden konnten. Blieb nur noch die Frage, wer die Fälschung begangen hat. Es gibt dazu zwei Theorien. Entweder war es eine aus dem Ruder gelaufene Posse, deren Urheber sich nicht mehr getraut hat, sie aufzulösen oder es war vielleicht der Entdecker Charles Dawson selbst, der auch schon durch andere Schummeleien aufgefallen war. Da alle Protagonisten mittlerweile tot sind, wird sich die Frage nach dem Schuldigen wohl nicht mehr aufklären lassen. Wissenschaft kann aber auch auf furchtbare Weise entarten, wenn sie sich bestimmten Ideologien anbiedert. Ein besonders böses Beispiel ist hier die „Rassenkunde“ des „Dritten Reiches“, eine Pseudowissenschaft, an deren Fingern Blut klebt. Für sie wäre eine Einordnung als „Cargo-Kult-Wissenschaft“ mehr als verharmlosend. Sie zeigt, wie man „Wissenschaft“ politisch missbrauchen kann, nur um so etwas wie eine „Begründung“ für eine menschenverachtende Ideologie zu liefern. 

Lyssenkoismus

In der Sowjetunion der Stalinzeit wurden auch Pseudowissenschaften gepflegt, soweit sie der herrschenden Ideologie – hier des Kommunismus in Stalinscher Ausprägung – diente. Ein her-ausragender Repräsentant war dabei der Agronom und Biologe Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976), dessen Lehren man heute als „Lyssenkoismus“ bezeichnet. 


Er war ohne Zweifel einer der höchstdekorierten Wissenschaftler der Sowjetunion: dreimaliger Stalinpreisträger, siebenmal mit dem Leninorden dekoriert, Held a) der „Sowjetunion“ und b) der „Sozialistischen Arbeit“, mehrfacher Deputierter des Obersten Sowjets und - man könnte schon fast sagen „natürlich“ - Präsidiumsmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. 


Und trotzdem war ein gewichtiger Teil seiner Arbeiten und Erkenntnisse „Cargo-Kult“ im besten Sinne des Wortes. Sein Fachgebiet war die Landwirtschaft, sein theoretischer Unterbau eine modifizierte Form des Lamarckismus - einer Evolutionslehre, die außerhalb der damaligen Sowjetunion so gut wie keine Anhänger mehr hatte - und seine Reputation erwuchs im Wesentlichen aus seiner Beziehung zu Josef Stalin, dessen Repressionsregime er sich nutzbar machte, um nicht nur Konkurrenten im Wissenschaftsbetrieb mundtot zu machen. Lyssenko war der Auffassung (ähnlich wie Lamarck), das erworbene Eigenschaften vererbbar sind. Das passte sehr gut zur Irrlehre des „Wissenschaftlichen Kommunismus“, die u. a. davon ausgeht, dass sich durch Erziehung und Indoktrination ein neuer Menschenschlag, die „sozialistische Persönlichkeit“ - oder, genauer, der „Sowjetmensch“, erschaffen lässt, deren damals propagierte Eigenschaften sich von Generation zu Generation weiter vererben. Die „klassische Genetik“ mit den Genen war in dieser Hinsicht natürlich zutiefst „unsozialistisch“ und „bourgeois“, was deren Anhänger in der Sowjetunion der Stalinzeit natürlich in den kommunistischen Kreisen schnell verdächtig machte. Und einmal in den Fängen eines Lawrenti Beria (1899-1953) und seiner Häscher geraten, bedeutete das schnell Verlust der Karrieremöglichkeiten bis hin zu „Sibirien“ und Tod. Und Lyssenko war einer derjenigen, die diesen unvergleichlichen Repressionsapparat für sich nutzte, um Widersacher zu verdrängen, denen er weder charakterlich noch intellektuell gewachsen war und sich selbst in deren Positionen zu schieben. So ist auch leicht verständlich, dass nach Stalins Tod im Jahre 1953 mit Beginn der Aufarbeitung seiner Verbrechen auch der Stern Lyssenkos zu sinken begann. Unter Nikita Chruschtschow (1894-1971) wurde er schließlich als Präsident der Lenin-Landwirtschaftsakademie abgesetzt und seine nunmehr auch von der Staats- und Parteiführung als skurril erkannte Lehre nach und nach aus den Lehrplänen der Schulen und Hochschulen verbannt. Der Lyssenkoismus, der sich einst wie ein Mehltau über die Landwirtschaft der Sowjetunion legte, hatte ausgedient. Dabei war Lyssenko ein durchaus fleißiger Wissenschaftler mit Ideen, der pragmatisch, aber letztendlich auf der Grundlage falscher Überlegungen an die Züchtung neuer Pflanzen heranging. Dabei hatten es ihm insbesondere neue Getreidesorten angetan. So führte er Versuche durch, um aus „Winter-Weizen“ (der bekanntlich einmal überwintern muss) „Sommer-Weizen“ herzustellen, dessen Lebenszyklus auf einen Sommer begrenzt ist und der höhere Erträge erwarten ließ - und das in klimatischen Zonen, wo dessen Anbau gewöhnlich ein Risiko darstellt. Da er davon ausging, dass sich erworbene Eigenschaften vererben, feuchtete er Wintergerstenkörner an, ließ sie keimen und anschließend in Kühlhäusern lagern. Anschließend säte er sie wie Sommergerste aus und stellte fest, dass er aus „Wintergerste“ „Sommergerste“ gezüchtet hat, deren Ertrag den der normalen Sommergerste um mehr als 30% überstieg. Er glaubte, auf diese Weise „Wintergerste“ in „Sommergerste“ umgewandelt zu haben. Diese Züchtungsmethode nannte er „Jarowisation“. Sie erklärt sich durch einen den Botanikern als Vernalisation bekannten Prozess und hat nichts mit der Vererbung erworbener Eigenschaften zu tun. Nach sowjetischen Angaben betrug die Fläche, die 1938 mit jarowisiertem Getreide bestellt war, rund 18 Millionen Hektar und die damit erzielten Ertragssteigerungen waren durchaus beachtlich. Diese anfänglichen Erfolge begründeten seinen Ruf und um ihn begann sich auch so etwas wie ein Personenkult zu entwickeln. Er wurde in der Presse als „Genie“ tituliert, was ihn wiederum beflügelte, eine allgemeingültige „Theorie“ zur Erklärung dieser neuen Zuchtmethode zu entwickeln. Und damit verließ er die Pfade der seriösen Wissenschaft. Als großer Vorteil erwies es sich für ihn, dass seine schlichten Ideen bei Stalin auf offene Ohren stießen. Seine Erfolge wurden hochstilisiert, seine genau so vielen Misserfolge dagegen unter den Teppich gekehrt und seine Kritiker mundtot gemacht. In seinen theoretischen Schriften negierte er den Zufall bei evolutionären Prozessen und begründete das mit Zitaten von Lenin und Stalin. Nach Lyssenko stellen die Erbanlagen so etwas wie ein „Konzentrat aus den Umwelteinflüssen“ dar, den das Lebewesen über Generationen ausgesetzt war. Auf dieser völlig falschen Prämisse entwickelte er schließlich eine Art „neuer Biologie“, die zwar ganz auf dem Fundament des „Dialektischen Materialismus“ stand, aber ansonsten mit Biologie an sich nur noch wenig zu tun hatte. Sie fand sogar Eingang in die Schullehrbücher der damaligen Sowjetunion. Darin konnte man lesen, dass es Lyssenko und seinen Mitarbeiter beispielsweise gelungen ist, Kiefern in Fichten und Weizen in Roggen zu verwandeln und das es bald Apfelbäume geben wird, welche selbst in den Kältesteppen Sibiriens eine reiche Ernte versprechen. Der Lyssenkoismus ist vielleicht das Paradebeispiel dafür, wie unter dem Einfluss einer politischen Ideologie Wissenschaft quasi durch ein Dogma ersetzt wird. 

Mitschurin hat festgestellt…

Die Lehre Lyssenkos ist aber nicht völlig auf dessen eigenem Mist gewachsen. Viele seiner Ideen gehen auf den großen Obstzüchter Iwan Wladimirowitsch Mitschurin (1855-1935) zurück, dessen praktische Erfolge (er entwickelte u. a. die Obstbaum-Propfung zur Perfektion) auch heute noch unbestritten sind. Nur dessen theoretische Überlegungen, die sich stark an Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) anlehnten und die von Lyssenko übernommen wurden, waren schlicht falsch. Über ihn haben sich leider nur einige Spottverse erhalten, die auch heute ab und an noch zitiert werden: „Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält, drum essen wir auf jeder Reise Marmelade eimerweise...“ 


Oder, als es in den Anfangsjahren der DDR nur wenig oder keine Butter zu kaufen gab, kursierte unter der Bevölkerung der Reim: „Mitschurin hat festgestellt, dass die Butter Gift enthält. Um das Volk halt zu gesunden, ist die Butter nun verschwunden...“ 

Epigenetische Prozesse

Interessanterweise gibt es rund 40 Jahre nach Lyssenkos Tod doch Hinweise darauf, dass bestimmte erworbene Eigenschaften (z. B. Krankheitsbilder) unter gewissen Umständen an die Nachkommen weitergegeben werden. Die Funktionsweise dieser sogenannten epigenetischen Prozesse ist dabei durchaus an die Gene und deren Vererbungsmechanismen gebunden, aber nicht an die eigentliche genetische Information, die im DNA-Molekül hinterlegt ist. Ausschlaggebend sind hier spezielle epigenetische Faktoren, welche in der Lage sind, die Aktivität von Genen zu regulieren, indem sie diese oder Gruppen von ihnen in Bezug auf die Genexpression in der Zelle ein- oder ausschließen. Sie sind selbst nicht in der DNA lokalisiert, sondern in bestimmten Proteinen in den Chromosomen, genauer den Histonen. 


Diese Histone stellen quasi die „Spulen“ dar, um die sich ein DNA-Molekül im kondensierten Zustand windet. Werden diese „Spulen“ chemisch verändert, hat das entsprechende Auswirkungen auf die Genexpression. Gerät ein Lebewesen z. B. unter Stress, d. h. durch veränderte Umweltbedingungen, Nahrungsmangel oder der Einwirkung von Giftstoffen, dann können bestimmte Histone dauerhaft chemisch markiert werden und auf diese Weise Einfluss auf das Verhalten von Körperzellen nehmen, in dem sie gewisse Gene permanent ein- oder ausschalten. Es scheint so - und entsprechende Experimente belegen es mittlerweile - dass derartige epigenetische Marker durchaus an die Nachkommen weitergegeben werden können. Es gibt sogar begründete Vermutungen darüber, dass bestimmte Krankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit zu einem gewissen Teil epigenetisch bedingt sind. Deshalb ist die Erforschung der entsprechenden Mechanismen auch von großer gesundheitspolitischer Bedeutung. Für die Erb- und Evolutionsbiologie ist die Epigenetik ein neuer Ansatzpunkt zur Erklärung erbbiologischer Auffälligkeiten. Nehmen wir z. B. die Honigbiene, um mal ein Beispiel aus der Tierwelt zu bemühen. Bekanntlich sieht dieses Insekt im frühen Larvenstadium immer gleich aus. Diejenigen Larven, die von den Ammenbienen mit einem Gemisch aus Honig und Pollen gefüttert werden, entwickeln sich zu sterilen Arbeitsbienen.


Die Larve hingegen, die mit Gelée royale (Weiselfuttersaft) gefüttert wird, ändert ihre Gestalt und entwickelt sich zu einer eierlegenden Bienenkönigin. Dabei sind die Gene der Arbeitsbienen und der Bienenkönigin völlig identisch. Es scheint so, dass die Nahrung - hier die Honig-Pollen-Mischung - zur expliziten Abschaltung bestimmter Entwicklungsgene führt. Der chemische Mechanismus, der insbesondere auf die Histone wirkt, nennt man Methylierung. Darunter versteht man das „Anhängen“ bzw. „Entfernen“ von Methylgruppen an bestimmten Histon-Proteine mit dem Effekt, dass sich damit die Genexpression steuern lässt. Und das Bemerkenswerte dabei ist, dass sich mit speziellen Pharmaka gezielt Einfluss auf diesen Vorgang nehmen lässt, was neue therapeutische Ansätze bei gewissen Krankheiten verspricht. Erste Erfolge gibt es beispielsweise bei der Erkennung von Krebszellen, bei denen die Gene abgeschaltet sind, welche das krankhafte Zellwachstum normalerweise verhindern. Weiterhin sind, wie man erst seit wenigen Jahren weiß, epigenetische Fehlsteuerungen für die Entstehung bestimmter immunologischer und neuronaler Erkrankungen sowie diverser Wachstumsstörungen von Bedeutung. Darunter fallen beispielsweise auch seltene Erkrankungen wie das Silver-Russel-Syndrom (eine spezielle Form der Kleinwüchsigkeit), die man unter dem Begriff Genomic Imprinting (genomische Prägung) zusammenfasst. 

Kleinwüchsigkeit

Kleinwüchsige Menschen (d. h. Menschen, die im Erwachsenenalter unter 1,5 Meter Körperlänge bleiben und keine Pygmäen sind) hat es schon immer gegeben. In der Bundesrepublik sind nach Angaben des „Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ ca. 100.000 Personen davon betroffen. Heute stehen ihnen fast alle Berufe offen. In der Vergangenheit wurden Kleinwüchsige zumeist toleriert und, wie im alten Ägypten, sogar verehrt. Besonders im Mittelalter und in der frühen Neuzeit galt es bei Hofe als schicklich, den einen oder anderen „Zwerg“ als Spaßmacher anzustellen. 


Auch waren kleine Menschen als „Spezialisten“ gern gesehen - so z. B. im Bergbau (man denke nur an die „Sieben Zwerge“) oder als Kaminreiniger („Schornsteinfeger“). Der Ire Jonathan Swift (1667-1745) machte “Kleinwüchsige” 1726 sogar zum Thema eines vielbeachteten Romans mit dem etwas sperrigen Titel: „Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of Several Ships” - heute kurz als „Gullivers Reisen“ bekannt. Seitdem werden Kleinwüchsige auch gern als „Liliputaner“ bezeichnet, was manchmal als abwertend empfunden wird, es aber sicherlich nicht ist. Interessant ist, dass ab dem 19. Jahrhundert viele Kleinwüchsige Karrieren auf dem Gebiet der Schauspielerei gemacht haben. Nehmen wir z. B. Kenny Baker, den viele von uns aus der Star-Wars-Saga kennen. Oder Tamara De Treaux (1959-1990), die in Steven Spielbergs berühmten Film „E.T.“ („Nach hause telefonieren...“) den „Außerirdischen“ (leider nur als Kern der „Puppe“) mimte, weshalb sie trotz ihrer herausragenden schauspielerischen Leistung leider ziemlich unbekannt blieb. Fast jeder in der DDR geborene kennt dagegen - wenn auch kaum vom Namen her - Richard Krüger (1953-1995). Er spielte u. a. den bösen Zwerg in dem hübschen Märchenfilm „Das singende klingende Bäumchen“ aus dem Jahre 1957. 


Heute vermutet man, dass Richard Krüger nur der Künstlername des Artisten Hermann Emmrich war, der in Prenzlau lebte. Interessanterweise gibt es darüber immer noch eine Kontroverse unter den Cineasten, die sich bis heute nicht abschließend klären ließ. Aber es stimmt durchaus. Kleinwüchsige arbeiten gern im Zirkus - wenigstens als Clown, aber oft als begnadete Zirkusartisten. Die Ungarin Susanna Bokoyni (sie wurde im Jahre 1879 geboren, war gerade einmal einen Meter groß und wurde 105 Jahre alt) trat z. B. europaweit und zuletzt auch in den Vereinigten Staaten als „Prinzessin Susanna“ auf und begeisterte ihr Publikum. Berühmt wurde auch der schwarze Entertainer Thomas Dilward (1840-1902), der als „Japanese Tommy“ in Varietéshows auftrat. Und auch die berühmten Worte über Isaak Newton: 

Nature and nature's laws lay hid in night - God said "Let Newton be!" and all was light. 

(„Natur und der Natur Gesetze lagen in dunkler Nacht - Gott sprach: Newton sei! Und sie strahlten voller Pracht“ – in Deutsch gereimt.) stammen von einem heute noch bekannten kleinwüchsigen Dichter (1,37 Meter) - nämlich Alexander Pope (1688-1744). 

Große kleine Königin – Mathilde von Flandern

Unter den gekrönten Häuptern der Weltgeschichte findet man dagegen so gut wie keine Kleinwüchsige. Der Grund dafür dürfte dabei eher in ihrer Seltenheit liegen, denn in Dynastien, die sich durch Erbfolge erhalten, dürfte die Körpergröße kein maßgeblicher Parameter gewesen sein. 


So mag es zwar überraschen, dass die Gemahlin König Wilhelm I. (um 1027-1087) und spätere Königin von England, Mathilde von Flandern (um 1030-1083), nur 1,27 Meter groß war, während ihr Ehemann eine außergewöhnlich stattliche Gestalt gehabt haben soll. Man kennt ihre Körpergröße nur deshalb so genau, weil man 1961 ihr Grab in der Abtei des Klosters Sainte Trinité in Caen geöffnet und ihre Gebeine vermessen hat. Zu Lebzeiten wurde ihre Kleinwüchsigkeit, jedenfalls was die schriftlichen Überlieferungen betrifft, nie thematisiert. Warum sollte auch eine große Königin nicht mal klein sein dürfen. Leider wissen die Historiker nur erstaunlich wenig über die Französin, die am 11. Mai des Jahres 1068 als Mathilde I. (wahrscheinlich in Winchester, der ersten Hauptstadt Englands) zur Königin von England gekrönt wurde. 

Der Teppich von Bayeux

Das gilt nicht für ihren Mann, dem mit dem berühmten „Teppich von Bayeux“ ein bis heute erhaltenes Denkmal gesetzt wurde. Es zeigt auf einem ca. einem halben Meter breiten und rund 68 Meter langen Stoffstreifen in aufwändiger farbiger Stickarbeit Szenen der Eroberung Großbritanniens durch den Normannenherzog und späteren König von England Wilhelm I., der deshalb auch den Beinamen „der Eroberer“ trägt. Die ikonenhafte Bildgeschichte beginnt mit dem Zusammentreffen von Harald Godwinson, Earl of Wessex, mit dem englischen König Edward und endet mit der berühmten Schlacht von Hastings am 14. Oktober 1066, der mit dem Sieg der Normannen über die Angelsachsen und dem Tod ihres Königs Harald II. (1022-1066) endete. 


Dann dauerte es nur noch 5 Jahre, und der Normannenherzog, der sich noch im gleichen Jahr zum englischen König krönen ließ, hatte das ganze Land unter seine Herrschaft gebracht. Der „Teppich von Bayeux“, der manchmal auch „Bildteppich der Königin Mathilda“ genannt wird (obwohl wahrscheinlich Edith von Wessex (1029-1075) die Auftraggeberin war), ist in vielerlei Hinsicht von geschichtlicher und kulturhistorischer Bedeutung. Selbst astronomiegeschichtlich ist diese Textilie erwähnenswert. 

Der Halley‘sche Komet

Ungefähr in der Mitte des Wandteppichs, bei Szene 33, erkennt man nämlich einen „Schweifstern“, auf den einige Männer mit ihren Fingern zeigen. 


Wie wir heute wissen, stellt er die älteste Abbildung des Halley’schen Kometen dar, welcher im Jahre 1066 einen Periheldurchgang absolvierte und bei der er sich der Erde auf bis zu 15 Millionen Kilometer näherte (was übrigens im Fall von „Halley“ außergewöhnlich „nahe“ ist). Auf jeden Fall muss er damals eine äußerst auffällige Himmelserscheinung gewesen sein, so wie vielleicht für unsere Generation der Komet Hale-Bopp im Frühjahr des Jahres 1997. Für die Engländer, die bei Hastings den Normannen entgegentraten, war er ohne Zweifel ein Unglücksstern. Wilhelm I. dürfte ihn dagegen als Glücksstern oder als „himmlische Siegesbotschaft“ empfunden haben. Kometen gehören seit je zu den spektakulärsten Himmelserscheinungen, die zu allen Zeiten mit großer Aufmerksamkeit beobachtet wurden. „Gaststerne“, wie man sie auch nannte, galten im Mittelalter und frühen Neuzeit jedoch hauptsächlich als Unglücksbringer, die für mancherlei Übel auf der Welt verantwortlich gemacht wurden. 

Kometenflugblätter

Bekannt sind die sogenannten Kometenflugblätter aus jener Zeit, die noch in manchen Archiven und Bibliotheken schlummern. Dort wird von „erschröcklichen Zornruten Gottes“ und „Pestilenz-bringenden Haarsternen“ berichtet. Es scheint, dass man in jener Zeit alle Übel der Welt, die einem Menschen widerfahren können, durch „Haarsterne“, was „Komet“ übersetzt bedeutet, verursacht dachte. So findet man im Stadtarchiv der Sechsstadt Löbau in der Oberlausitz unter dem Jahr 1472 den Eintrag: 

Am Tage Agnetis erschien abermahl ein erschröcklicher Comet, welcher ganzer 6 Wochen am Himmel zu sehen war, worauf an vielen Orten Krieg, Hunger und Pestilenz erfolgt.“ 

Da dieser Komet (sein offizieller Name ist C/1472 Y1) besonders hell und damit leicht mit freien Augen zu sehen war, gibt es viele Einträge dazu in alten Annalen. Er wurde sehr genau von dem Astronomen Johannes Müller, bekannt als Regiomontanus (1436-1476), beobachtet. Seine Beobachtungsergebnisse legte er in einer Schrift nieder, die erst 1532 von einem gewissen Johannes Schöner (1477-1547) in Nürnberg posthum veröffentlicht worden ist. 


Der interessierte Leser kann sie heute unter dem Titel "Problemata XVI de cometae (1472) magnitudine longitudineque ac de loco ejus vero" in digitalisierter Form im Internet finden. Sie gilt als die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Kometen. Aber wie gesagt, noch bis weit in die Neuzeit galten Kometen als Unglücksbringer, wie folgende eindrückliche Worte auf einem Kometenflugblatt aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zeigen:

Es zeugen uns alle Cometen zwar - Sehr viel Unglücks, Trübsal und Gefahr, - Und hat niemals eines Cometen Schein - Pflegen ohne böse Bedeutung zu sein. - Achterley Unglück insgemein entsteht, - Wenn in der Luft brennet ein Comet: 

- 1)Viel Fieber, Krankheit, Pestilentz und Todt, 
- 2) Schwere Zeit, Mangel und große Hungersnoth, 
- 3) Große Hitze, dürre Zeit und Unfruchtbarkeit, 
- 4) Krieg, Raub, Brand, Mord, Aufruhr, Neid, Haß und Streit, 
- 5) Frost, Kälte, Sturmwind, böse Wetter, Wassersnoth, 
- 6) Viel hoher Leute Untergang und Todt, 
- 7) Feuersnoth und Erdbeben an manchem End, 
- 8) Große Veränderung der Regiment, 

So wir aber Buße thun von Hertzen, - So wendet Gott auch alles Unglück und Schmertzen.“ 

Hier erkennt man, dass zu jener Zeit immer noch die alte aristotelesche Deutung der Kometen als Erscheinung der Meteorologie und nicht der Astronomie zur Erklärung herangezogen wurde: Kometen sind Ausdünstungen der Erde, die sich in den obersten Luftschichten entzündet haben. Im Jahre 1577 konnte der berühmte Astronom Tycho Brahe (1546-1601) auf seiner Sternwarte Uranienburg mit speziellen Peilgeräten (das Fernrohr war zu jener Zeit noch nicht erfunden) einen sehr hellen Kometen über mehr als zwei Monate verfolgen. Auch die schon erwähnte Löbauer Stadtchronik weiß über diesen „Großen Kometen von 1577“ zu berichten: 

Den 12. Novembr. biß aufn 6. Jan. 1578 hat man abermahl einen großen erschröcklichen Cometstern am Himmel gesehen, im 16 grad des Steinbocks, nicht weit von Saturno, welcher nach Untergange der Sonnen erschienen, und seinen Schwantz, so sich in die länge auf 39 gradus soll erstrecket haben, nicht schnurschlecht von der Sonnen, sondern seitwarts derselben gekehret, daß sich ihrer viel darüber verwundernde entsetzet, maßen dergleichen und von solcher Länge wenig Cometen gesehen worden, …“. 

Tycho Brahe ließ sich natürlich von einem solchen Kometen nicht schrecken, sondern stellte fest, dass die Horizontalparallaxe dieses Himmelskörpers unter 15 Bogenminuten lag. Daraus schluss-folgerte er, dass Kometen außerhalb der Erde – und offensichtlich sogar weit hinter dem Mond – ihre Bahn ziehen. Eine qualitative Erklärung des Phänomens blieb ihm aber trotzdem verwehrt. Erst über 100 Jahre später – zwischenzeitlich hatte Johannes Kepler (1571-1630) seine Planetengesetze entdeckt und Isaak Newton (1643-1727) das von ihm gefundene Gravitationsgesetz zur Erklärung der Bewegung der Himmelskörper herangezogen – konnte Edmund Halley (1656-1742) durch die Entdeckung, dass Kometen periodische, d. h. wiederkehrende Erscheinungen sind, die Kometenforschung wieder ein großes Stück voranbringen. Sein Forschungsobjekt, der „Große Komet von 1682“, wird heute ihm zu Ehren „Halley’scher Komet“ genannt. Dass es von ihm sogar eine Abbildung in Form einer Stickerei auf einem alten englischen Wandteppich gab, war ihm jedoch nicht bekannt. Dieser Komet wurde natürlich auch in Löbau in der Oberlausitz mit bangem Herzen verfolgt, über den diesmal der Annalenschreiber besonders ausführlich berichtete: 

D. 23 Jul (1683. d. A. ): Zu Abend um halbweg 10 Uhr, sahe man zum erstenmahl einen neuen Cometen, er war aber dermahln sehr kleine, mit einem kurzen Schwanze, durch den Tubum kondte er fein deutlich undt helle betrachtet werden, mit bloßen gesichte mochte er etwan einem Sterne Vierter größe gleichen. In folgenden Tagen spürte man, daß er rückgängig war undt zwar sehr schwaches Lauffes, sintemahl er nicht viel über einen halben grad desTages verrichtete. Er blieb lange Zeit klein und es war nicht zuerkennen, ob er ab- oder zunahm. Endlich sah man doch, daß er mercklich zunahm, sonderlich war er am 28. Aug: als er Beim SiebenGestirn stund, als der halbe Mond groß iedoch blaß undt ohne eines frischen Kern. So lange, als wir ihn sahen, nahm sein Lauff stets zu, biß er zulezt auff 5 grad kam, Erstlich war er (…) zwischen dem Kopffe des großen Behren undt dem Fuhrmanne, hernach ging er durch den Fuhrmanne undt kam nahe unter der Ziege hin, ferner zum Sieben gestirn undt ward im Kopffe des Wallfisches zulezt gesehen. - Nachdenklich ists, daß eben dieser Comet damahls erschien, als die Türcken Wien belagert hatten, Man sollte wohl meinen, er hatte den Türcken Krieg bedeutet undt sonderlich der Stadt Wien solch unglück; Aber es kann nicht seyn, Das unglück war schon da, durffte nicht erst bedeutet werden. Vielmehr wollte ich sagen: Dieser Comet verkündiget das Türken groß unglück. Denn ob es wohl erstlich, da er noch klein war, gegen Norden stund, so hatten wir ihn doch hernach, da er am grösten erschien, undt am stärcksten lieff, also auch vermuthlich der Erde am nechsten war, gegen den Türckenkrieg zu zusehns, als eben diese Gott undt Christus verhaßete Menschen, oder vielmehr Teuffel ihr 30 tägige Fasten Ramadan hielten. Gott trieb sie bald darauf durch die Waffen der Christl. Potentaten, am 20 Tage ihres Fasten von Wien, die sie so lange geängstiget hatten undt verliehe den Christen eine überaus herrlichen Sieg …“. 

Interessant ist dabei u. a. dass bei den beschriebenen Beobachtungen offensichtlich bereits ein Fernrohr („Tubum“) verwendet wurde. Ein paar Jahre zuvor hatte Georg Samuel Dörffel (1643-1727) aus Plauen anhand seiner Beobachtungen des „Großen Kometen von 1680“ nachweisen können, dass sich dieser Komet auf einer Parabelbahn mit dem Brennpunkt „Sonne“ bewegt. Damit konnte er zeigen, dass die beiden Kometen von 1680 und 1681 ein und derselbe war und zwar einmal vor und einmal nach dem Periheldurchgang. Seine Schrift „Dissertatio de Cometa“ hat diesen sonst heute wohl vergessenen Liebhaber der Astronomie (er war von Beruf Geistlicher, zuletzt Superintendent im thüringischen Weida) in den Kreisen der Kometenforscher weltberühmt gemacht. Mit dem Fernrohr als Hilfsmittel entwickelte sich in der Folgezeit die Suche nach neuen Kometen zu einer Lieblingsbeschäftigung mancher Astronomen und Astronomieliebhaber, die bei Erfolg nicht nur in Fachkreisen zu Hochachtung und Anerkennung führte. Dem Franzosen Charles Messier (1730-1817) gelangen zum Beispiel im Laufe seines Lebens 19 Kometenentdeckungen. Aber nicht diese Kometenentdeckungen haben seinen Namen in die Gegenwart gerettet. Richtig berühmt hat ihn eigentlich ein Nebenprodukt seiner Beobachtungstätigkeit gemacht, sein weithin bekannter Katalog der Nebelflecken (1784), der noch heute jedem Astronomen und Amateurastronomen geläufig ist. Und noch ein Beispiel aus dem Dunstkreis der Stadt Löbau in der Oberlausitz: Ernst Wilhelm Leberecht Tempel (1821-1889) aus Niedercunnersdorf, wo man noch heute sein Geburtshaus besichtigen kann. Er gilt als Entdecker von 21 Kometen. Darunter so prominente wie 55/Temple-Tuttle, der Ursprungskomet des Meteorstroms der Leoniden, und 9P/Tempel-1, der 2005 von der NASA-Sonde „Deep Impact“ besucht und sogar mit einem großen Kupferprojektil beschossen wurde. Von den mehr theoretisch bewanderten Astronomen wurden neue und schnelle Berechnungsverfahren (zu jener Zeit war die Logarithmentafel und der Kopf der Computer des kleinen Mannes), insbesondere auch für Parabelbahnen, entwickelt. Hier ist besonders der Bremer Arzt und Liebhaberastronom Wilhelm Olbers (1758-1840, er entdeckte selbst 6 Kometen) zu nennen, dessen Schrift „Abhandlung über die leichteste und bequemste Methode, die Bahn eines Kometen aus einigen Beobachtungen zu berechnen“ die Bahnbestimmung von Kometen wesentlich vereinfachte. Während man die Bahneigenschaften der Kometen immer besser verstand, wurden wesentliche Fortschritte über ihre physische Natur erst im 20. Jahrhundert erzielt. Alle Deutungsversuche davor waren eher vage. So führte z. B. die Entdeckung, dass viele kurzperiodische Kometen ihr Aphel in der Nähe der Jupiterbahn haben, zu der Hypothese, dass Kometen Himmelskörper sind, die ab und an vom Jupiter ausgestoßen werden ohne jedoch genau zu erklären, wie das eigentlich funktionieren soll. Als Höhepunkte der Kometenforschung des 19. Jahrhunderts kann man die Erklärung der Kome-tenschweife durch austretenden Staub unter Einwirkung einer von der Sonne ausgehenden repulsiven Kraft durch Friedrich Wilhelm Bessel (1784-1846) und der Nachweis, das Kometen mit Meteorströmen verbunden sind, durch Giovanni Schiaparelli (1835-1910), ansehen. Die Staubtheorie Bessels hatte sehr lange Bestand, da sie in einigen wesentlichen Punkten der Wahrheit recht nahe kam. Im Jahre 1900 zeigte Svante Arrhenius (1859-1927), dass für Bessels repulsive Kraft der Strahlungsdruck des Sonnenlichts in Frage kommt. Diese Idee wurde beispielsweise von Karl Schwarzschild (1873-1916) aufgegriffen und später von Arthur S. Eddington (1882-1944) weiterentwickelt, der 1910 (das war übrigens das Jahr, wo der Halley’sche Komet wieder einmal zu sehen war) eine Theorie entwickelte, die erklärt, wie Staubpartikel in Sonnennähe einen Kometen verlassen können. 1868 beobachtete Giovanni Donati (1826-1873) und William Huggins (1824-1910) zum ersten Mal einen Kometen durch ein Spektroskop und fanden, dass sich ihr Licht doch wesentlich von gewöhnlichem reflektiertem Sonnenlicht unterscheidet. Die in den Kometenspektren vorherrschenden molekularen Banden konnten erst über ein halbes Jahrhundert später mit Hilfe der Quantentheorie erklärt werden. Von 1950 stammt das berühmte Modell des „schmutzigen Schneeballs“ für einen Kometenkern (Fred Whipple, 1906-2004) und die Theorie der „Kometenwolke“, welche das Sonnensystem als sphärische Hülle von außen her umschließt (Jan Oort, 1900-1992). Und als weitere große Entdeckung soll die Erklärung des Plasmaschweifs von Kometen als Ergebnis der Wechselwirkung der Kometengase mit einer von der Sonne permanent ausgehenden Partikelstrahlung, die heute als „Sonnenwind“ bezeichnet wird, durch den deutschen Astronomen Ludwig Biermann (1907-1986) nicht unerwähnt bleiben. 1986 trat dann ein Ereignis ein, welches die Kometenforschung wahrhaft beflügelte – die Wiederkehr des Kometen Halley, den einst schon Mathilde von Flandern, König Harald II. von England, Wilhelm den Eroberer und Edith von Wessex gesehen haben, um nur einige zu nennen, deren Namen die Zeiten überdauert haben. Wenn sich auch diesmal seine Erscheinung am Himmel in Grenzen hielt, war er doch ein Medienereignis und das Ziel einer ganzen Armada von interplanetaren Raumsonden, von denen hier nur die ESA-Kometensonde „Giotto“ erwähnt werden soll. Weitere knapp 30 Jahre später steht – zwar etwas verkantet – der Kometenlander „Philae“ auf der Oberfläche des Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko und wartet auf Sonnenschein, um wieder einmal „nachhause-telefonieren“ zu können. Es ist doch irgendwie erstaunlich, wie sich zumindest in technischer Hinsicht die Menschheit in den knapp 1000 Jahren seit der Schlacht von Hastings weiterentwickelt hat. 

Problem Fortschritt

Nur am Schlachtenlärm hat sich nichts geändert. Nun ja, auch „Fortschritt“ ist keine absolute Größe und genaugenommen vom Kontext abhängig, in dem man diesen Begriff benutzt. 


Am häufigsten findet man ihn im Sinn des „Technischen Fortschritts“, wo er auch am besten aufgehoben ist. Er beschreibt hier den Wandel einer Volkswirtschaft anhand der von ihr zur Verfügung gestellten Produkte und ihrer stetigen qualitativen Verbesserung, die durch gezielte Forschung und Entwicklung vorangetrieben wird. Sie impliziert gewöhnlich gesellschaftliche Entwicklungen „zum Besseren“ hin, obwohl auch das wieder im Kontext der allgemeinen Lebensumstände und des gesellschaftlichen Umfeldes gesehen werden muss (was nutzt ein technologischer Fortschritt einem Menschen, der daran nicht partizipieren kann?). Andererseits ist es nicht selbstverständlich, dass eine Gesellschaft aus sich heraus sich zu einer „technologischen Gesellschaft“ entwickelt. Das ist sogar eher wenig wahrscheinlich, da, wie viele Beispiele in der Menschheitsgeschichte zeigen, Traditionen und deren Aufrechterhaltung eine große Rolle im Zusammenleben der Menschen spielen und somit eine Entwicklung in Richtung „Fortschritt“ behindern. „Fortschritt“ im technischen Sinn initiiert sich in revolutionären Phasen, an die sie entweder wieder eine lange Zeit des Stillstands anschließt (z. B. Übergang von der Stein- zur Bronzezeit, von der Bronzezeit zur Eisenzeit) oder eine Entwicklung ausgelöst wird, die sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung parallelisiert wie die industrielle Revolution, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert in England ihren Ausgangspunkt nahm und die, wie die Energiesparlampen auf LED-Basis zeigen, noch anhält. Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist, ob eine zunehmende Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit im Zusammenspiel mit fortschrittsfeindlichen Ideologien diese Entwicklung stoppen kann. 

Fortschrittsgläubigkeit

Viel mit „Fortschritt“ hat auch die „Fortschrittsgläubigkeit“ zu tun. Denn mit der Entwicklung der Atombombe, der Freisetzung langlebiger toxischer Stoffe bei Chemieunfällen, der technisch bedingten und möglich gewordenen großflächigen Umweltzerstörung (eine für die Natur der Erde wohl schlimmste Erfindung dürfte in dieser Hinsicht die Hand-Kettensäge gewesen sein) dämmert es manchen Menschen, dass „Fortschritt“ nicht per se etwas Positives ist. 


Dieser Fakt wird aber in der Regel verdrängt, denn technologischer Fortschritt wird noch mit einem anderen Begriff assoziiert, dem Begriff des stetigen wirtschaftlichen Wachstums. Von den Politikern wird diese Art von Wachstum als „die“ Bedingung für technischen und gesellschaftlichen Fortschritt angesehen. Zwar hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass Wachstum in einer Welt begrenzter Ressourcen zwangsläufig in eine Sackgasse führt. Diese Erkenntnis tritt aber nur zögerlich in das politische Bewusstsein, denn „kein Wachstum“ wird eher als Bedrohung empfunden – genauer gesagt, ist es aber das „Diktat des Wachstums“, das Menschen und Unternehmen zwingt, immer mehr zu konsumieren und zu produzieren. Die Gesetze der Wirtschaft zwingen ihn regelrecht dazu. Bei näherer Betrachtung besteht der einzige Weg, um die durch „Wachstum“ verursachten Probleme wie Ressourcenverknappung, Schuldenkrisen, Handelskriege, Überbevölkerung etc. zu mindern, in der Entkopplung von Fortschritt und Wachstum. 

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