Ein Gastbeitrag von Björn Ehrlich, Zittau-Hörnitz
Wir greifen eine alte Tour auf, denn zum einen sind wir verliebt in die lieblich-wellige Landschaft der verschwundenen Dörfer (Übersichtkarte hier) im ehemaligen Militärsperrgebiet um den Roll (Ralsko). Zum anderen steht immer noch die Besteigung des Großen Hirschberges (Velký Jelení vrch) aus. Also machen wir uns auf nach Nahlau (Nahlov) und begehen zunächst alte Pfade. Der an Niederschlag reiche Sommer lässt die gut bewirtschafteten weitläufigen Grasländereien in sattem Grün aufleuchten, an den Wegrändern blühen die Wiesenkräuter und je nach Blickrichtung dominieren der Jeschken (Ještěd), die Bösige (Bezdězy), der Roll und die Hirschberge. Wir denken an die Menschen, die hier bis 1945 in den abgelegenen Dörfern lebten, welche nach 1945 restlos dem Erdboden gleich gemacht wurden. Zunächst erreichen wir auf einer Anhöhe Böhmisch Neuland (Dolní Novina), nahliegend das frühere Sperning (Ostrov), alsbald im Tale die Fluren von Schwabitz (Svébořice). Hier beginnt der Anstieg zum Hirschberg. Da, wo ich einst noch auf Wegen lief, kämpfen wir uns durch tiefes Gras, Massen von Bremsen umschwärmen und piesacken uns heftig, wenn man es verpasst, sie zu verscheuchen. Nach dem Eintritt in den Wald, beruhigt sich die Lage, es bleibt aber schwül.
Der Aufstieg auf den Großen Hirschberg vollzieht sich über einen steil ansteigenden Pfad, der vom Hauptweg an der nordöstlichen Seite abgeht. Spätestens beim Einstieg in die Felsen muss ich erkennen, dass ich den Aufstieg abhaken muss. Man sollte sich das eingestehen, wenn die eigenen Möglichkeiten dem Risiko nicht gerecht werden. Zwei Wanderfreunde steigen aber zum Gipfel auf, um sich des traumhaften Rundblicks zu erfreuen. Absolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind Voraussetzung für die Begehung des ungesicherten Gipfels. In diesem Film kann man sich eine Vorstellung davon machen. Im Jahrbuch des Deutschen Gebirgsvereines für das Jeschken- und Isergebirge, Jahrgang 1923 lesen wir die bemerkenswerte Schilderung einer Gipfelbegehung:
„Nicht weit von den untern Säulenklötzen geht an der Ostseite der Mauer ein Riß herab, durch den der Gipfel von geübten Kletterern leicht zu ersteigen ist. Oben gerät der Fuß zunächst auf formlose Masse, daneben schießt ein schmaler Grat ausgerichteter Säulen steilgestellt empor, über den hinweg Schwindelfreie die bucklige Fläche gegen Norden hin begehen können - überall das Bild der Zerstörung. - Aus spärlichen graugrünen Flecken mit niedrigem Strauchwerk an den Rissen taucht das wirre, kantigzerfurchte Aufundab des lichtüberrindeten Gesteins. Die Zeit hat in die Rinnen die Trümmer geschüttet und der Blitz dunkle Denkzettel auf die Platte gelegt. Doch so öde der Stein, so lieblich die Aussicht! Der Wald kleidet die Höhe wie mit einem dunklen Talare, groß ist das Bild vom Jeschken mit dem abgesunkenen Gelände vor ihm, näher gerückt stehen die begangenen Klippen, daneben der breite Stein und ihm gegenüber die zerscharteten Hänge von Schwarzwald, während zwischen beiden, weiter draußen der Dohlenstein sich emporreckt und näher herein die Wände und Wandreste stehen um das Schwarzwalder Törl. Dem Jeschken gegenüber jedoch hebt sich der Roll, dessen eruptive Plattendecke mitsamt dem Gipfel in so vielem dem Aufbau unserer beiden Kuppen ähnelt.“ („Zwischen dem Jeschken und dem Bösige“, Robert Müller)
Einen Geschmack von dem grandiosen Panorama erhält man in diesem Video . Aber nicht nur vom dafür prädestinierten Hirschberg erlebt man tolle Aussichten. Unten im Tal steht im Wald verborgen ein Fels - der Struhanken (Stohanek) - auf dem von 1427 bis 1444 eine spartanische Burg residierte, von deren Existenz nur noch der durch den Fels gehauene Aufgang, einige ausgehauene Räume und eine Zisterne künden. Im 18. Jahrhunderten war die Ruine von einem Eremiten besiedelt.
„Hohe Kiefern, die schon aus der Ferne dem Struhanken ein eigenartiges Gepräge verleihen, beschatten jetzt die Stelle der einstigen Einsiedelei. In dem abschüssigen Rande des Felsens finden sich, überdacht von knorrigen Eichen und verdeckt von Erika und Preiselbeergesträuch Überreste einer alten Weganlage, die den Holzbau umgab. Entzückt von dem prächtigen Rundblicke lassen wir uns auf einer gegen Westen zu in den Fels gemeißelten Bank nieder, um all' die stolzen Bergkegel und die zwischen grünen Wiesen und bunten Feldern gar lieblich eingebetteten Städtchen und Dörfchen wieder zu begrüßen, die wir auf Kreuz- und Querzügen durch unseren nordischen Heimatsgau bereits kennen gelernt und geschaut haben. Da reckt sich aus dichtem Buchenwalde kühn der scharfe Basaltgrat des Großen Hirschberges hinan zum hellblauen Himmelsgrunde rechts bestrichen von seinem niedrigeren und unscheinbaren Nachbarn und Namensvetter. Darüber aber lugen von steiler Höhe die Trümmer der alten Rollburg traurig herüber, während uns der Roll selbst von hier aus als breiter, behäbiger Geselle erscheint. Zur Linken über dem anmutigen Kirchdorfe Schwabitz erheben sich, schier zum Erreichen nahe, die beiden Bösige, zwei alte Bekannte, die uns vom Haupte unseres Altvaters Jeschken immer gar so fern däuchten. Wenden wir aber unseren Blick gegen Norden und Osten, so übersehen wir zunächst eine ausgedehnte Kiefernwaldung, überragt von einer Reihe zierlicher Berggipfel; wir kennen sie alle: da links der lang gezogene Ziegenrücken, weiter rechts die Basaltkuppen des Audishorner- und des Hammerspitzberges, des Dewin und ganz zur Rechten die dicht bewaldete Felshochfläche des Breiten Steines. Dahinter schließt unser Gesichtsfeld der mächtige Jeschkenkamm ab, ungefähr in seiner Mitte das kostbare Kleinod unserer heimatlichen Bergwelt, die Jeschkenkoppe, bergend: edel an Form und Gestalt, erhaben über die vorliegenden Gipfel, strebt sie als zarte Spitze empor zum blauen Äther.“ Streifzüge in die Umgebung von Hammer, J. König, Jahrbuch des Deutschen Gebirgsvereines für das Jeschken- und Isergebirge“, 1910)
Auf dem Struhanken findet sich ein lauschiges Plätzchen für eine längere Rast. Dabei schweift der Blick in die Runde und nimmt die eben beschriebenen Perspektiven in Augenschein. Ein wenig traurig wirken die abgestorbenen Kiefern, die sich noch an den Fels klammern. Offenbar hat ihnen die Trockenheit der letzten Jahre zu stark zugesetzt.
Wir machen uns wieder auf den Weg und wandern über die Fluren der ehemaligen Dörfer Schwarzwald (Černá Novina) und Hultschken (Holičky) zurück nach Nahlau. Am dortigen Museum nehmen wir noch eine Erfrischung zu uns und machen uns dann auf den Heimweg.
Den verschwundenen Dörfern ist eine interessante Website gewidmet, die allerdings derzeit nur in tschechischer Sprache vorliegt, siehe hier. Außerdem wird diese Gegend zunehmend touristisch entdeckt und unter der Bezeichnung Geopark Roll (Ralsko) präsentiert.
Die GPS-Daten zu dieser Tour findet man hier.
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