Donnerstag, 15. Oktober 2015

Wieder etwas Lesestoff: Zeit, Zensur und politische Korrektheit

... Seite 125

Die Auflösung des Olbersschen Paradoxon liegt in der Endlichkeit des sichtbaren Universums in der Zeit. 

Was ist „Zeit“?

Aber was ist „die Zeit“? Einstein hat sie einmal völlig korrekt wie folgt definiert: „Zeit ist das, was eine Uhr anzeigt.“ 


Aber diese Definition befriedigt irgendwie nicht. Das erkannte schon Augustinus, der in seinen Confessiones in Bezug auf „Was ist Zeit?“ freimütig feststellt „Wenn niemand mich danach fragt, so weiß ich es; sobald ich es jedoch einem Fragenden explizieren will, weiß ich es nicht.“ Also was ist „die Zeit“? Für Isaak Newton war klar, dass es so etwas wie eine „universelle“ Zeit geben muss, für die er folgende Definition vorschlug: 

Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“ 

Mit dieser Definition konnten die Physiker und die Allgemeinheit lange leben, bis Albert Einstein auf den Plan trat (die „Allgemeinheit“ kann auch heute noch ganz gut mit Newton’s Definition leben, es sei denn, sie verwendet ein GPS-System zum navigieren) und ein ganz neues, unerwartetes Zeitkonzept aus der Tatsache heraus, dass die Vakuumlichtgeschwindigkeit für jeden Beobachter unabhängig von dessen eigenen Bewegungszustand eine Konstante ist, entwickelte. Dieses neue Konzept ist Inhalt der Speziellen Relativitätstheorie von 1905. Sie beschert uns u. a. das sogenannte Zwillingsparadoxon, sie erklärt die Verlängerung der Lebensdauer von Elementarteilchen, wenn sie sich relativ zu uns sehr schnell bewegen, und auch die Formel E=mc² ist eine direkte Konsequenz dieser Theorie. Die Spezielle Relativitätstheorie zeigt uns, wie sich „Zeit“ (dargestellt durch Uhren) in unserer Welt verhält, aber nicht, was Zeit „ist“. Formal ist dagegen alles klar. Sie ergänzt die drei Raumdimensionen um eine weitere, vierte Dimension, welche die Definition eines Ereignisses ermöglicht, also etwas, was an einem gegebenen Raumpunkt zu einem gegebenen Zeitpunkt stattfindet. Dabei gibt es für einen Beobachter immer einen ausgezeichneten Zeitpunkt, der Ereignisse in der Vergangenheit von Ereignissen in der Zukunft trennt. Diesen ausgezeichneten Zeitpunkt nennt man Gegenwart oder „das „Jetzt“. Er ist physikalisch-klassisch infinitesimal, entspricht aber psychologisch einem kleinen Zeitraum, da auch die Erfahrung der Gegenwart eine gewisse Zeit beansprucht. Diese „Zeitdimension der Empfindung“ liegt bei etwa 0,1 Sekunden. Die Zeit selbst empfinden wir als Gegenwart, erinnert als Vergangenheit und erhofft als Zukunft. Diese Empfindung wird oft mit einem „Fluss der Zeit“ in Verbindung gebracht, so wie es bereits Isaak Newton in seiner „Principia mathematica“ ausgedrückt hat. Und dieser „Fluss“ hat offenbar eine Richtung, und zwar von der Vergangenheit zur Zukunft – ein Faktum, welches in der Physik als „Zeitpfeil“ bezeichnet wird. 

Bewegung und das Zenon’sche Pfeilparadoxon

Der infinitesimale Charakter des „Zeitpunktes“ Gegenwart, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt, hat bei näheren Hinschauen etwas Problematisches an sich, was als einer der Ersten Zenon von Elea (490-430 v. Chr.) in seiner ganzen Schärfe erkannt hat. 


Ich meine das „Pfeilparadoxon“. Es ist schnell erzählt: Ein Pfeil fliegt durch die Luft. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt verharrt der Pfeil bewegungslos, d. h. der „momentane“ Pfeil gleicht einer einzelnen Fotografie seiner selbst. Die „Zeit“ besteht aber aus einer unendlichen Zahl von Augenblicken, und in jedem Augenblick steht der Pfeil still. Wo ist dann die Bewegung? Zenon schlussfolgerte daraus 

Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es ist, noch in dem Raume, in dem es nicht ist.“ 

Man könnte jetzt vermuten, dass die Raumzeit (d. h. Raum und Zeit) eine „körnige“ Struktur hat. Aber auch das führt im Lichte des Pfeilparadoxons zu einer widersinnigen Konsequenz, und zwar zu der, dass der Pfeil zwar in jedem einzelnen Augenblick ruht, in vielen Augenblicken aber eine Bewegung ausführt. Das schließt aus, dass der Pfeil gleichsam von Punkt zu Punkt springt und zwar in der Form, dass er am Punkt A zum Zeitpunkt A verschwindet und zum Zeitpunkt B am Punkt B instantan wieder entsteht. Die Absurdität, die sich aus derartigen Überlegungen ergibt ist die, dass Raum und Zeit demnach weder eine kontinuierliche noch eine diskontinuierliche Struktur besitzen können, also etwas, was dem gesunden Menschenverstand zuwider läuft. Trotzdem, 

Bewegung gibt es nicht, so sprach der bärt‘ge Weise. Der andre schwieg, begann vor ihm zu wandeln…“ 

dichtete einst Alexander Puschkin. Es gibt verschiedene Lösungsansätze, das Pfeilparadoxon zu lösen. Der bekannteste ist der auf Augustin Cauchy (1789-1857) zurückgehende Grenzwertbegriff, auf dem bekanntlich die moderne Infinitesimalrechnung beruht. Damit ist das Problem schnell erledigt, denn dann ist es zwar richtig, dass sich „Bewegung“ nicht durch eine Reihe von Momentaufnahmen erfassen lässt. Der Grund dafür liegt darin, dass es nicht ausreicht, immer nur einen Zeitpunkt (Augenblick) isoliert zu betrachten. Wesentlich ist vielmehr der Begriff der Mo-mentangeschwindigkeit, die sich über eine Grenzwertbetrachtung aus einer unendlichen Folge von Durchschnittsgeschwindigkeiten ergibt. Sie hat nur Sinn, wenn man die räumliche und zeitliche Nachbarschaft mit einschließt, denn ohne diese lässt sich Ruhe nicht von Bewegung unterscheiden. Die Krux dieser Argumentation liegt aber darin, dass sich der Grenzwertbegriff erst einmal auf einen speziellen mathematischen Raum, bestehend aus einem Punktekontinuum, bezieht. Wer sagt uns eigentlich, dass der physikalische Raum auch wirklich diesem abstrakten mathematischen Raum äquivalent ist? Und hier kommt die Quantenmechanik zur Erklärung des Pfeilparadoxons in Form der Heisenbergschen Ortsunschärfebeziehung ins Spiel, die besagt, dass man niemals Ort und Geschwindigkeit mit beliebiger Genauigkeit zusammen messen kann. Nämlich immer dann, wenn sich der Pfeil zu einem gegebenen Augenblick exakt am Ort A befindet, besitzt er eine sich aus dem Grenzübergang t -> t‘ ergebende Momentangeschwindigkeit v. Je genauer nun der Ort A lokalisiert ist, desto unbestimmter ist offensichtlich v (was natürlich auch umgekehrt gilt). Im Gegensatz zur Argumentation des Eleaten, der ja behauptet, dass der Pfeil in einem gegebenen Augenblick im Ort A ruht, besagt die Quantenmechanik, dass der Pfeil im Punkt A überhaupt keine definierbare Geschwindigkeit besitzt. 

Das „Fließen“ der Zeit

Und damit wollen wir es erst einmal belassen und uns wieder der Frage „Was ist Zeit?“ zuwenden, und zwar dem Aspekt des „Zeitflusses“. Er beschreibt das fortgesetzte Vergehen des „Jetzt“ in der Vergangenheit und das Hereinbrechen der Zukunft als einen unaufhaltsamen Prozess. 

(Die tote Motte ist eine Messingeule)

Aber wie schon Kant feststellte, macht der Begriff des „Fließens“ in diesem Zusammenhang nur dann Sinn, wenn man es mit der Alternative des „Nichtfließens“ vergleichen könnte. Für gestandene Physiker ist deshalb Zeit in diesem Sinn eine, wenn auch hartnäckige, Illusion. Seine Formeln zeigen explizit kein „Fließen“ der Zeit, sie ist dort lediglich ein Parameter analog den Ortskoordinaten, mit dem man Veränderungen beschreiben kann. Dort, wo es keine wie auch immer geartete Veränderungen gibt, wird der Zeitbegriff sinnlos, da sich unter dieser Bedingung auch keine Messvorschrift für diesen Parameter mehr definieren lässt. 

Der thermodynamische und kosmologische Zeitpfeil

Das steht auch im Einklang mit dem sogenannten thermodynamischen Zeitpfeil. Er legt von zwei zeitlich getrennten Zuständen eines Systems genau den als mehr in der Vergangenheit liegenden fest, der die geringere Entropie von beiden aufweist. Ein physikalisches System im thermodynamischen Gleichgewicht (d. h. in dem keine Veränderungen mehr stattfinden) kennt deshalb weder Vergangenheit noch Zukunft, es ist gewissermaßen zeitlos. Eine andere Art des Zeitpfeils kann man an der Entwicklung des überschaubaren (d. h. für uns sichtbaren) Teils des Universums festmachen. Und zwar lässt sich in diesem Fall die Zeit quasi an der durch die kosmische Expansion erreichten Größe (dem „Weltradius“) ablesen. Man spricht hier speziell vom „kosmologischen Zeitpfeil“. Das „Zeitproblem“ hat aber auch jenseits der Physik seine jeweils eigene Bedeutung wie z. B. in der Psychologie (Warum erscheinen uns die Tage im „Alter“ kürzer als die Tage in unseren Kindertagen?), in der Metaphysik (siehe z. B. Heideggers „Sein und Zeit“) oder Biologie (Evolution) und hat auch heute noch nichts von seiner Faszination zumindest für diejenigen, die darüber nachzudenken bereit sind, verloren. 

Thomas Mann und sein „Zauberberg“

Es sei hier nur an die Worte Hans Castorp’s in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erinnert, dem er folgende Gedanken „in den Kopf schrieb“: 

Was ist die Zeit? Ein Geheimnis - wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raums? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie "zeitigt". Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mißt, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier.“ 

Dieses Buch, nach den „Buddenbrooks“ (Literaturnobelpreis 1929) und „Königliche Hoheit“ der dritte große Roman von Thomas Mann (1875-1955), war einer „der“ Bestseller in der Zeit der Weimarer Republik und darüber hinaus. 


In der Tradition des deutschen Bildungsromans (besser, einer Parodie darauf) wird in der Enge eines Lungensanatoriums in der Schweiz ein episches Gemälde, das sich um die Person des jungen Hamburgers Hans Castorp rankt, entwickelt und, fein ziseliert, mit einer Vielzahl von jeweils eigenen Charakteren in Beziehung gesetzt. Ein als „kurz“ (3 Wochen) geplanter Besuch Castorps in Davos entwickelt sich zu einem 7-jährigen Aufenthalt, in dem die Persönlichkeit des Protagonisten geformt wird. Der „rote Faden“ des Romans erscheint zwar simpel, aber die Sprache Thomas Manns, die eingestreuten philosophischen und theologischen Streitgespräche auf zum Teil sehr hohem Niveau (und deshalb nicht immer leicht zu folgen) in Verbindung mit der intensiven Atmosphäre jener durch den 1. Weltkrieg geprägten Zeit lassen einen nicht mehr los. Wenn Sie also dieses Buch noch nicht gelesen haben, dann sollten Sie dieses hier erst einmal zur Seite legen und zum „Zauberberg“ wechseln. 

„Als wär’s ein Stück von mir“

Sie werden es nicht bereuen. Mich hat in meiner Studentenzeit, wo ich unendlich viel gelesen habe, noch ein anderes Buch stark beeindruckt, wenn es auch nicht in dieser literarischen Liga mitspielen kann. Es handelt sich um die Autobiografie von Carl Zuckmayer (1896-1977) mit dem Titel „Als wär’s ein Stück von mir“. 


Nur wenige werden noch diesen Theaterschriftsteller kennen, dem mit der Komödie „Der fröhliche Weinberg“ 1925 der Durchbruch gelang. Zwei Jahre später festigte sich sein Erfolg mit dem Stück „Schinderhannes“ und 1931 gelang ihm dann der ganz große Coup mit „Der Hauptmann von Köpenick“, der ihn innerhalb kürzester Zeit zu einem wohlhabenden Mann machte. Dieses Stück war wegen seiner deutlichen antimilitaristischen Haltung zur Zeit des Nationalsozialismus natürlich nicht mehr opportun, was ihn 1938 zur Flucht aus Österreich veranlasste. Alles das hat er in seiner Autobiografie detailliert beschrieben – die Verhältnisse in Wien nach dem „Anschluss“, seine fast misslungene Flucht über die Schweiz, die ihn erst nach Rotterdam und dann in die Vereinigten Staaten führte, wo er dann eine Zeitlang als Drehbuchautor in Hollywood lebte (um einmal eine bekannte Örtlichkeit zu nennen) und seine Rückkehr nach dem Krieg. Zuckmayers Autobiografie lässt die ersten 6 Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts ähnlich lebendig vor Augen treten wie das Leben Hans Castorps in Davos am Vorabend des 1. Weltkrieges in Thomas Manns Roman. Schritt für Schritt trifft man auf berühmte Zeitzeugen wie Max Reinhard, Bertolt Brecht, Stefan Zweig und, und, und… Kein Abschnitt ist langweilig. Deshalb ein Tipp: Falls man nur wenig Zeit zum Lesen erübrigen kann, sollte man die Lektüre aufschieben und in den Urlaub verlagern. Glauben Sie mir, Zuckmayers Autobiografie ist besser als jedes Geschichtsbuch über diese ereignisreiche Zeit. Der Titel „Als wär’s ein Stück von mir“ ist übrigens eine Zeile aus dem Gedicht von Ludwig Uhland „Der gute Kamerad“, welches er im Jahre 1809 unter dem Eindruck des Einsatzes Badischer Truppen gegen die gegen Napoleon Bonaparte revoltierenden Tiroler Freiheitskämpfer geschrieben hat. Dieses Gedicht, auch als „Ich hatt‘ einen Kameraden…“ bekannt, wird in der Vertonung von Friedrich Silcher auch heute noch bei Trauerfeierlichkeiten der Bundeswehr gespielt. Es war „das“ Lied zur Zeit des Ersten Weltkriegs. „Das“ Lied des Zweiten Weltkriegs war ohne Zweifel „Lili Marleen“, ursprünglich von Lale Andersen gesungen („An der Kaserne, vor dem großen Tor…“). Popularisiert durch den Armeesender Belgrad kam nach 1941 eine Vielzahl von Varianten in anderen Sprachen auf, denn das Lied war auch unter den Gegnern Nazideutschlands äußerst beliebt. Eine englischsprachige Fassung ist beispielsweise eng mit dem Namen von Marlene Dietrich (1901-1992) verbunden, die berühmte, in die USA ausgewanderten UFA-Schauspielerin aus der Heinrich-Mann - Verfilmung des Buches „Prof. Unrat“ - dem „Blauen Engel“. Als es schließlich mit dem Hitlerreich langsam zu Ende ging, die Rote Armee die deutsche Wehrmacht immer weiter nach Westen zurückdrängte und schließlich die Alliierten an der Normandie eine zweite Front eröffneten, kurz gesagt, sich durch den Bombenkrieg die Lage auch innerhalb Deutschlands immer unerträglicher gestaltete, wurde ein weiteres Lied zum Gassenhauer und fatalistischen Mutmacher: „Davon geht die Welt nicht unter“ von Bruno Balz (1902-1988) und unvergleichlich gesungen von Zarah Leander (1907-1981) im Film „Die große Liebe“. Und als letztes Beispiel muss unbedingt noch „Brothers in Arms“ von Mark Knopfler („Dire Straits“, ein anderes Wort für „pleite“) erwähnt werden, welches man wiederum als „das“ Lied der Jugoslawienkriege von 1991 bis 2001 bezeichnen kann. 

Das Berufsbild des Zensors

„Lieder“, aber auch Gedichte, Flugschriften und natürlich Bücher waren in der Geschichte oftmals auch Mittel der Auseinandersetzung zwischen Herrschern und Beherrschten, was im 16. Jahrhundert zu dem neuen Berufsbild des „Zensors“ geführt hat und der oftmals bei der Polizeibehörde angesiedelt war. Seine Aufgabe bestand darin, für die Öffentlichkeit bestimmte Druckschriften ihrem Inhalt nach zu überprüfen, ob die darin enthaltenen Informationen oder Meinungsäußerungen den jeweils herrschenden Gesetzen konform gehen oder nicht, ob sie ethisch vertretbar sind oder nicht oder ob sie einfach „höhergestellten Personen“ auf den Senkel gehen würden oder nicht. 


Damit sind natürlich noch lange nicht alle Gründe aufgeführt, die zu einer „Zensur“ führen können. Und auch heute ist dieses Thema durchaus noch ein Thema, obwohl diese Berufsbezeichnung (und offiziell die damit verbundene Tätigkeit) zumindest in Deutschland nicht mehr geführt bzw. ausgeführt wird. Zwar steht im entscheidenden Titel unseres Grundgesetzes „Zensur findet nicht statt“, aber dafür hat politische Korrektheit und „Selbstzensur“ Einzug in die Medienpraxis gehalten. Und damit kein Missverständnis entsteht, die „Zensur“ ist nicht unbedingt an den Beruf des „Zensors“ gebunden. Das Verbot missliebiger Schriften ist so alt, wie es „missliebige“ Schriften gibt. Besonders hervorgetan hat sich hier die katholische Kirche mit ihrem „Index Librorum Prohibitorum“, dem „Index der verbotenen Bücher“, welches 1559 zum ersten Mal öffentlich gemacht und erst 1966 wieder abgeschafft wurde. Aber darum soll es hier nicht gehen. 

Das Geschäft des „zensierens“

Es soll eher um die „Kleingeister“ gehen, die das Geschäft des „Zensierens“ quasi amtlich durchführten und dabei zwangsläufig auf „große Geister“ stießen, denen sie geistig nicht im Geringsten gewachsen waren. Die Beweise dafür haben sie in den Texten hinterlassen, die von ihnen mit viel Akribie und durchaus auch Phantasie verunstaltet wurden. Fangen wir mit einem zweifellos „großen Geist“ an, mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und seiner Tragödie „Faust I“. Hier hatten es dem Zensor insbesondere die „jugendgefährdenden“ Verse angetan. Dabei schwelgte er manchmal selbst in Dichtkunst, wie folgende Beispiele beweisen: So heißt es bei Goethe „Ach, kann ich nie – Ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen, - und Brust an Brust und Seel an Seele drängen?“. Was, eine ganze Stunde am „Busen“ hängen? Nein, das geht beileibe nicht – also wurde der Vers gestrichen und flugs vom Zensor umgedichtet: “Ach, kann ich nie – Ein Stündchen ruhig bei dir sein, - Doch ungestört wir beide nun allein, - Man hat sich doch so manches Wort zu sagen, - das keine Zeugen will!“ Wenn es dann auch noch um kirchliche Dinge ging, da lief der Zensor in Höchstform auf: So liest man in der bekannten Schülerszene Mephistos Ratschlag „Doch Euch des Schreibens ja befleißt, - Als diktiert‘ Euch der Heilig‘ Geist!“, was so natürlich keinesfalls stehenbleiben durfte: „Doch Euch des Schreibens ja befleißt, - Weil dies allein studieren heißt.“ Das „Zensieren“ durchaus auch eine intellektuelle Leistung darstellt, bewies ein Zensor bei der Entschärfung des Spottlieds „Es saß ein Ratt im Kellernest“, dessen erste Strophe vollständig lautet „Es saß ein Ratt im Kellernest, - Lebte nur von Fett und Butter, - Hat‘ sich ein Ränzlein angemäst’t – Als wie der Doktor Luther“. „Dr. Luther! – nein, das geht gar nicht“, muss es wie ein Blitz durch das Kleinhirn des Zensors gezuckt sein. Aber nach einigen Stunden Kopfzerbrechen hatte er die Lösung: „Es saß ein Ratt im Kellernest, - Lebte nur von Fett und Butter, - Hat‘ sich ein Ränzlein angemäst’t – Wie der gelehrteste Chinese.“ Heute würde in manchen Weltgegenden auch die Zeile „Uns ist ganz kannibalisch wohl – Als wie fünfhundert Säuen!“ (aus dem „Flohlied“) mit hoher Wahrscheinlichkeit als bedenklich eingestuft und das dazugehörige literarische Werk zumindest als „harām“ qualifiziert, unter Umständen vielleicht sogar gleich in Gänze verboten werden, obwohl bereits eine vor ~200 Jahren zensierte Version existiert, an der man an der kompromittierten Stelle „Tralleralla, - Tralleralla!“ lesen kann. Aber da das ja auch irgendwie von einer Art Lebensfreude kündigt, dürfte selbst das noch - zumindest bei den Taliban - einer Fatwa wert sein… 

Ein Zensor war normalerweise eine achtungsgebietende Amtsperson, und die hatte sich, wie jede andere Amtsperson auch, an Anweisungen zu halten. Meist waren sie aber so allgemein formuliert, dass der Zensor einen großen Spielraum in deren Auslegung hatte. Der deutsche Literaturwissenschaftler Heinrich Hubert Houben (1875-1935) zitiert z. B. einen Erlass der österreichischen und erzkatholischen Kaiserin Maria Theresia (1717-1780), welcher detaillierte Direktiven über die Behandlung protestantischer und antikatholischer Schriften sowie deren Verfasser enthält. Er schreibt dazu: 

Die Verfasser protestantischer und antikatholischer Schriften erwartet Verbannung und Kerker. Schon der Besitz lutherischer, ketzerischer, überhaupt unkatholischer Schriften war aufs strengste verpönt; sie standen außerhalb allen Eigentumrechtes, jeder Geistliche durfte sie konfiszieren, wo er sie fand, jeder Privatmann war bei Strafe verpflichtet, anzugeben, wo immer er sie gesehen hatte. Wer ein Buch kaufte, musste es innerhalb von vier Wochen seinem Pfarrer zur Prüfung vorlegen, sonst erhielt er 3 Gulden Strafe, die sich im Wiederholungsfall empfindlich steigerte. Ein Drittel der Strafgelder fiel dem Denunzianten zu; daher stand die niederträchtigste Spionage in voller Blüte. Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung. Die Koffer der Reisenden wurden auf den Zollämtern durchsucht, alle bedenklichen Bücher weggenommen, verbotene verbrannt. Verkleidete Beamte der geistlichen Bücherpolizei besuchten als harmlose Kunden die Buchläden, schlichen sich in das Vertrauen der Händler und drangen in sie, ihnen verbotene Bücher zu verschaffen; ließen die Buchhändler sich überreden, so entdeckten sich die Spitzel als Polizisten, beschlagnahmten die Werke und nahmen die Verkäufer in Strafe.“ 

Wie man sieht, hatte man sowohl als Autor, als Buchhändler und sogar als Leser schlechte Karten, wenn man gegen die Zensurbehörde opponierte. Die „Zensur“ ist deshalb bis heute ein probates Mittel der Ausübung von Herrschaft. Andererseits war dasjenige, was gerade in früheren Zeiten „zensiert“ wurde, aus heutiger Sicht eher peinlich. Die schönsten Beispiele stammen dabei aus der „Theaterzensur“. So machte ein Zensor in dem bekannten Stück „Kabale und Liebe“ (von Friedrich Schiller) den Hofmarschall von Kalb zum „Oberkleiderwart“, da ja in der Auffassung der Zeit ein „Marschall“ niemals ein Intrigant sein kann. Schiller hatte eh Zeit seines Lebens mit Zensoren zu kämpfen, denen sein Werk nicht „politisch korrekt“ genug war, um es unverhunzt der Allgemeinheit vorlegen zu können. Nehmen wir nur „Die Jungfrau von Orleans“. Hier hatte es die Heldin des Stücks, Agnes Sorel, den Zensoren angetan, denn Schiller führte sie als Mätresse des französischen Königs Karl VII. ein (was sie natürlich auch war). Aber das dürfte nach Meinung der Zensurbehörde nicht sein, so dass sie in der zensierten Version dieses Dramas als rechtmäßige Gemahlin des Königs zu erscheinen hatte. Und so ließen sich noch viele Beispiele finden. 

Die Praxis der Zensur

Aber die Praxis der Zensur, die zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Zuarbeit von Spitzeln und Denunzianten angewiesen waren, mussten sich selbst mit „Gasthäusern“ herumschlagen, wenn deren Reklametafeln nicht den Zensurrichtlinien zu entsprechen vermochten. So erging es beispielsweise dem 1816 in Paris eröffneten Gasthaus „Boeuf à la mode“, von dem berichtet wird, dass es am Tag seiner Eröffnung mit einem Schild versehen war, auf dem man werbewirksam einen mit einem Schal und einem Strohhut aufgeputzten Ochsen sehen konnte. Was folgte, war eine Anzeige eines Polizeispitzels, der einen ganzen Rattenschwanz an Folgetätigkeiten, Untersuchungen, Rücksprachen (bis hin zum Polizeiminister!) und sogar eine geheime Inaugenscheinnahme des betreffenden Schildes zur Folge hatte. Denn die Anzeige des Spitzels hatte es in sich: 

Der auf dem Schild dargestellte Ochse ist bekanntlich das Symbol des Gemästetseins. Der Schal, der ihn ziert, ist von roter Farbe, der Schmuck auf dem Hut besteht aus weißen Federn und blauen Bändern. Von seinem Hals hängt ein Band samt einer Verzierung ähnlich dem Orden vom „Goldenen Vlies“, der von Fürsten getragen wird. Der Hut soll offensichtlich die Krone darstellen und ist im Begriff, herunterzurutschen. Diese Anspielungen dienen zweifellos als Beweis dafür, dass jenes Aushängeschild nichts anderes ist als eine niederträchtige Karikatur von der Person Ihrer Majestät.“ 

– hier Ludwig XVIII. Für die Zensurbehörde spricht in diesem Fall, dass sie nach der geheimen Inspektion (man vermutet in Verbindung mit einem Besuch des Gasthofs) von einer weiteren Verfolgung der Angelegenheit Abstand genommen hat. Das Restaurant, in Versailles gelegen (an der Rue de la Paroisse), existiert übrigens heute noch und besitzt einen ausgezeichneten Ruf. 

„Zensur findet nicht statt“ - die „Politische Korrektheit“


Eng mit der „staatlichen“ Zensur ist die sie heute ablösende „Politische Korrektheit“ verwandt, die – zwar nicht kodifiziert – zur Selbstzensur anregt, in dem sie z. B. versucht, bestimmte, entweder zu Recht oder zu Unrecht disqualifizierte Wörter aus dem Wortschatz zu verbannen. Das ursprüngliche Ziel war es, der verbalen Diskriminierung von Minderheiten durch Einführung einer neutralen Sprache entgegenzuwirken – ein durchaus löbliches Unterfangen, wenn es nicht zu einer ideologischen Waffe „entartet“ (wieder so ein politisch inkorrektes Wort!) wäre. So ist es sicherlich richtig und damit nicht verkehrt, in offiziellen Schriften „Zigeuner“ mit dem korrekten Begriff „Sinti und Roma“ zu bezeichnen. Wenn aber ein „Zigeunerschnitzel“ (hinter dem sich ja eine konkrete Vorstellung verbirgt) ab sofort „politisch korrekt“ nur noch „Balkanschnitzel“ (oder, wie nun seit 2013 hochoffiziell in Hannover, „Paprikaschnitzel“) genannt werden darf, dann wird es nur noch lächerlich. Dabei soll nicht verhehlt werden, dass das Streben nach politischer Korrektheit durchaus Phantasie und Kreativität fördert und sich auf diese Weise – insbesondere für Germanisten – völlig neue Tätigkeitsfelder erschließen lassen. Und da gibt es wahrhaft große Herausforderungen. Nehmen wir z. B. die „Klofrau“ – wir kennen sie alle, die wir ab und an die von ihr überwachten, betreuten und in hygienisch einwandfreien Zustand gehaltenen Örtlichkeiten aus rein biologischen Gründen besuchen müssen. Uns würde nie der Gedanke kommen, dass dieser Begriff den Beruf oder die ihn ausübende Person irgendwie diskriminiert. Andererseits ist es aber durchaus wahr, dass unter einigen Mitmenschen (meist beruflich „höhergestellten“, die meinen, dass ihre „Tätigkeit“ irgendwie „wertvoller“ sei, da besser bezahlt) dieser Begriff zur Abqualifizierung von Tätigkeiten geringeren sozialen Prestiges verwendet wird. Und um dieser Minderheitenmeinung Paroli zu bieten, haben Leute, die sonst nichts Vernünftiges den Tag über zu tun haben, einmal den Begriff der „Toilettenpflegerin“ und, natürlich, des „Toilettenpflegers“ (zusammengefasst mit „Gender Gap“ „Toilettenpfleger_innen“) erdacht, um zumindest erst einmal eine Geschlechtergleichberechtigung zu erreichen - das hehre Ziel des Wissenschaftszweiges „feministischer Sprachforschung“. Aber hier steckt leider immer noch das üble Wort „Toilette“ drin. Doch auch hier wussten die Fachleute der deutschen Sprache schnell Abhilfe: „Toilettenpfleger_innen“ sind nämlich ganz neutral in Wahrheit facility manager, die im „McClean“ eines städtischen Hauptbahnhofes oder abseits einer Hotel-Lobby ihrer nützlichen Tätigkeit nachgehen. Da ist es kein Wunder, das normale Menschen eine „politisch korrekte“ Sprache immer mehr mit einer lächerlichen Euphemisierung sowie einer dogmatischen, intoleranten Politik assoziieren.
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