Samstag, 23. April 2011

Essay: Der lange Arm von Fukushima

Ich habe meinen ersten Essay über die Reaktorkatastrophe von Fukushima mit dem Satz beendet "So gesehen hat in der letzten Woche in DE auch ein Super-GAU stattgefunden, deren  verheerenden Folgen in der nächsten Zeit massiv zutage treten werden." Meine ersten Beobachtungen und Gedanken dazu möchte ich nun in diesem Essay in Worte fassen. 

Während es um Fukushima, nach dem der prophezeite Super-GAU mit totaler Kernschmelze offensichtlich ausgeblieben ist, langsam ruhig wird, überschlagen sich die Ereignisse in DE um so mehr. Die noch vor wenigen Wochen "sichersten AKW's der Welt" wurden, überrascht durch die Folgen eines nicht so vorhergesehenen Tsunamis in Japan, zuerst von der Öffentlichkeit, dann von der Politik, als existenzbedrohendes Restrisiko für die deutsche Bevölkerung ausgemacht. Das Datum für einen totale Ausstieg aus der Atomenergie wird täglich näher in die Zukunft verlegt, ja der öffentliche Druck steigt sogar soweit, daß von einigen Gruppierungen ein sofortiger Atomausstieg noch in diesem Jahr gefordert und auch für möglich gehalten wird ("Deutschland exportiert Strom", ist ein Hauptargument). Dabei verlagern sich die Diskussionen im Wesentlichen in zwei Richtungen. Einmal auf den "Preis" des Atomausstiegs, und zum anderen, wie die bis jetzt durch die AKW's abgedeckten Kraftwerkskapazitäten durch andere, bevorzugt "alternative" Energiequellen abzudecken sind. Technische Dinge, die damit im Zusammenhang stehen, tauchen dagegen in der öffentlichen Diskussion kaum oder nur verkürzt auf.

Dabei sind im Wesentlichen zwei Gruppen von Diskutanten (wenn man sie mal so nennen darf) auszumachen. Zuerst einmal Lieschen Müller sowie der "deutsche Michel", die ihren Strom aus der Steckdose beziehen und denen bis heute nicht klar ist, was eigentlich ein Kraftwerk ist, wie es funktioniert und wie der dort produzierte elektrische Strom schließlich in ihre Steckdose gelangt. Sie sehen die über 20000 Toten in Japan und hören täglich im Fernsehen, wie schlimm es um Fukujima steht und assoziieren aufgrund der Berichterstattung unserer Mainstream-Medien Erdbeben- bzw. Tsunami-Tote, 30 km- Sperrzone ("Todeszone") und "Schrottreaktor" mit „AKW“, "Atomstrom" und „Super-GAU“. Dabei hat es bis heute (23.4.2011) noch keinen einzigen Toten aufgrund der radioaktiven Strahlung in Fukujima gegeben. Ach das vorhergesagte (oder herbeigeredete) "Massensterben" unter den Kraftwerksarbeitern infolge einer akuten Verstrahlung wird zum Entsetzen mancher „Grünen“ wohl ausbleiben (Achtung, Sarkasmus!). 

Die zweite Gruppe der "Diskutanten" möchte ich einmal "Dilettanten" im negativ besetzten Sinn des Wortes nennen. Dazu gehören neben einer erschreckend großen Zahl von Journalisten, Verbandsvertreter von Umweltschutzorganisationen und, besonders auffällig, auch wichtige Entscheidungsträger aus der Politik, die sich anmaßen, bar jeder Fachkenntnis Entscheidungen herbeizuführen oder zumindest zu fordern, die u.U. zu immensen Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft führen können. Und vielleicht sollte man als weitere Gruppe noch die "Ignoranten" nennen, die rein aus politischen Karrieregründen oder aufgrund lukrativer Lobbyarbeit die von der Presse geschürte Angst vor der Atomkraft nutzen, um daraus für sich selbst Kapital zu schlagen (so jener Geschäftsführer einer Solarzellenfirma, der in Phönix vorrechnete, wie einfach es doch ist, die gesamte deutsche AKW-Kapazität durch Strom aus Solarzellen zu ersetzen, auf die Frage zu deren Grundlastsicherheit aber nichts zu sagen wußte). 

Wie Irreführung aussieht, konnte man an der Berichterstattung über das Reaktorunglück in Fukushima in detail studieren. So wurden z.B. fast immer die lokal gemessenen Maximalwerte der Strahlungskontaminationen genannt, ohne zu sagen, daß sie für die gesamte Umgebung oder den genannten Zeitraum überhaupt nicht relevant sind. Dazu kommt noch die ständige Verwechselung von Einheiten wie z.B. Millisievert oder Mikrosievert. Selten wurde überhaupt erklärt, was diese Einheiten bedeuten und wie die veröffentlichten Zahlen einzuordnen sind. So konnte man am 20. März bei den "Tagesthemen" erfahren, daß in der "Präfektur Fukushima" in einem Umkreis von 40 km um das AKW eine Belastung des Bodens an 137-Cäsium von über 160000 Bq (d.h. radioaktive Zerfälle pro Sekunde) pro kg Erdboden gemessen wurden. Eine scheinbar besorgniserregende Zahl, wenn es in Wirklichkeit nicht ein "Ausreißer" in einer Vielzahl von Einzelmessungen gewesen wäre. Im Durchschnitt lagen die Werte unter 2000 Bq/kg. Auch die Zahlen über das kontaminierte Wasser, welches aus dem Kraftwerk in den angrenzenden Pazifischen Ozean gelangte, relativieren sich, wenn man sie sich etwas genauer anschaut. Sie wird zu einem größeren Teil durch 131 Jod und zu einem geringeren Teil von 137 Cäsium bedingt (hier nur ein Meßwert vom 21.3.2011, ermittelt 330 m südlich eines Ausflußkanals: 131-I 5000 Bq/l und 137-Cä 1200 Bq/l). Bei der Interpretation dieser Zahlen ist, was die Langzeitwirkung betrifft, zu bedenken, daß die Radioaktivität eines Isotops mit 8 Tage Halbwertszeit (131-I) bereits innerhalb eines Zeitraums von 80 Tagen fast völlig abgeklungen ist. Da die Strahlungsbelastung, welcher der Reaktorunfall von Fukushima in der Umgebung verursacht hat, zu einem größeren Teil von 131-I und zu einem geringeren Teil von 137-Cä herrührt, ergibt sich hieraus die Frage, ob die Restbelastung an 137-Cä in ein paar Monaten oder Jahren wirklich eine Wiederbesiedlung der z.Z. gesperrten Gebiete verhindern wird. Und zum Abschluß noch ein paar Worte zum (eventuell) freigesetzten Plutonium. Die Presse hat ja über den (nicht ganz einfachen) Nachweis von Plutonium-Spuren auf dem Kraftwerksgelände ausführlich berichtet. Wie sich dieser Nachweis auf die gesamte Kontaminationssituation auswirkt, konnte jedoch nicht ermittelt werden. Insbesondere wäre es interessant zu wissen, welche Menge an 239-Pu wirklich bei der Katastrophe in die Umwelt gelangt ist. Bei einem Ereignis in der Vergangenheit weiß man es ganz genau. Als am 9. August 1945 eine amerikanische Plutoniumbombe Nagasaki in Schutt und Asche legte und 35000 Menschen sofort tötete, wurden von den 6.2 kg Plutonium nur 1.2 kg während der Kernspaltung verbraucht. Der Rest hat sich als Fallout über die Stadt und ihre Umgebung abgelagert, wodurch eigentlich ein hochgradig radiaktiv kontaminiertes Gebiet entstanden sein sollte. Was aus diesem Gebiet geworden ist, zeigt ein Besuch des heutigen Nagasaki.

Ganz unabhängig von der Berichterstattung: Die Reaktorkatastrophe von Fukushima ist eine Katastrophe im wahrsten Sinne des Wortes. Die dabei verursachten Schäden wieder in Ordnung zu bringen, wird für die Japaner eine Mammutaufgabe werden und sie viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte beschäftigen (und ich meine hier nicht die sonstigen Erdbeben- und Tsunamie-Schäden, die zu beseitigen ohne Zweifel eine noch viel größere Herausforderung darstellen). Und man muß natürlich daraus lernen. Man darf dabei aber auch nicht den Sinn für die Realität verlieren. Manchmal hilft ein Taschenrechner, um wieder in die Realität zurückzufinden. Ich möchte das an dem immer wieder als unlösbar heraufbeschworene Problem der Entsorgung des sogenannten "Atommülls" festmachen. Unabhängig des Ausbaus der "alternativen" Energiequellen und der Energiequellen, die so gut wie keinen "Abfall" hinterlassen (Geothermie, Wasserkraft), werden auch in nächster Zukunft weiterhin Verbrennungsvorgänge und Kernspaltung die Erzeugung elektrischer - und Wärmeenergie dominieren. Daran wird auch der geplante deutsche Atomausstieg weder quantitativ noch qualitativ irgend etwas ändern. Gegenwärtig werden durch Verbrennungsvorgänge weltweit ~ 27 Milliarden Tonnen CO2 produziert. Bei Wolfram Alpha erfährt man, daß festes Kohlendioxid eine Dichte von 2525 kg/m³ besitzt. Demnach würden 27 Milliarden Tonnen CO2 ungefähr einen Würfel von 22 km Kantenlänge ergeben, wenn man es bei -80° C verfestigen würde - und das jedes Jahr. Ich weiß nicht, ob irgend jemand eine Idee hat, wie sich diese Menge langfristig "neutralisieren" läßt. Weltweit entstehen pro Jahr ca. 12000 Tonnen radioaktiver Abfall (Gerstner, Nature 460 (2009), 25). Das entspricht in komprimierter Form ungefähr einem Würfel mit ~12 Meter Kantenlänge. Wenn man ihn sicher und tief genug vergräbt, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum ein Mensch zu schaden. Ein stetiger, unkontrollierter CO2-Anstieg kann aber langfristig (sicher nicht für unsere oder die nächste bzw. übernächste Generation, aber für die Generationen darauf) vielen Menschen den Garaus machen. Das läßt sich langfristig nur durch eine CO2-neutrale Energieerzeugung vermeiden.

Kehren wir nun aber zu dem Fukushima-induzierten Super-GAU in Deutschland zurück. Die Frage, ob man den geplanten totalen Atomausstieg und den dadurch forcierten Aufbau erneuerbarer Energieträger als GAU bezeichnen kann oder nicht, ist natürlich Unsinn. Es geht vielmehr um die öffentlich geführte Diskussion darüber, die nach meinen Beobachtungen entweder hochgradig irrational geführt wird oder zumindest ein falsches Bild von der Problemlage in der Bevölkerung (und auch in der Politik) liefert. 

Die tägliche Verfügbarkeit elektrischer Energie ist eine Grundvoraussetzung für die Existenz und die Stabilität einer entwickelten Industriegesellschaft. Nur auf Selbstversorgung von Nahrungsmitteln eingerichtete Agrargesellschaften kommen (noch) weitgehend ohne Elektrizität aus. Die Versorgungssicherheit muß deshalb in jedem Augenblick gewährleistet sein, da ein großflächiger, länger andauernder Netzzusammenbruch (ein sogenannter „Blackout“) zu unabsehbaren Folgen führen kann, die sich im Einzelnen kaum vorhersagen lassen (der dadurch bedingte wirtschaftliche Schaden stellt dabei u.U. noch das kleinere Übel dar). Einen kleinen Vorgeschmack, was ein Blackout bedeutet, hat das "Münsterländer Schneechaos" vom 25.11.2005 geliefert (und vielleicht bringt man im Fernsehen wieder einmal das BBC Dokudrama "If the Lights Go Out" - zum "gruseln").

Der Energiebedarf wird auch in der Zukunft sowohl international (insbesondere in den Schwellenländer wie Indien und China) als auch national weiter zunehmen. In entwickelten Ländern gibt es zwar ein großes Potential an Einsparmöglichkeiten. Ihre Ausnutzung wird den Trend aber nicht stoppen können (die Ablösung "stromfressender" Fernseher mit Elektronenstrahlröhren durch stromsparende Flachbildschirme ist zwar ein schönes Beispiel, wie man im Consumer-Markt energiesparende Technologien erfolgreich einführen kann. Nur kaufen sich jetzt die ehemaligen Besitzer kleiner Fernseher jetzt Riesen-LCD's, die in der Summe dann genau so viel Energie verbrauchen wie die Geräte, die sie ablösen). Die Bereitstellung billiger Energie ist bei weltweit steigender Bevölkerungszahl und deren Teilhabe am Wohlstand ein internationales Problem, dessen Nichtlösung im ungünstigsten Fall zu großen zwischenstaatlichen Konflikten (ähnlich wie die Verknappung von Trinkwasser) führen kann.

Jede Technologie ist - wie das Leben allgemein - mit Risiken behaftet (oder anders ausgedrückt, das Leben ist lebensgefährlich). Die Frage ist, wie man mit Risiken umgeht und in welchem Maße man bereit ist, sie zu tolerieren. Es gibt Risiken, von denen heute sehr viele Menschen betroffen sind (z.B. Hungersnöte, Epidemien oder das Risiko, bei einem Erdbeben oder Tsunami, bei einem Vulkanausbruch, bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder bei einem Verkehrsunfall getötet zu werden - wobei diese Risiken geographisch sehr unterschiedlich verteilt sind). Andere Risiken werden zwar als sehr bedrohlich angesehen, spielen aber ansonsten im Vergleich zu den eben genannten Risiken so gut wie keine Rolle (z.B. Flugzeugabstürze, AKW-Katastrophen, Gen-Technik). Dazu kommen noch global existenzbedrohliche Ereignisse, die man zwar nicht ausschließen kann, die aber bei Risikobetrachtungen so gut wie keine Bedeutung haben, da sie bei ihrem (plötzlichen) Eintreten sowieso nicht beherrschbar sind (Asteroideneinschlag, Supervulkanausbruch, nuklearer Krieg; AKW-Katastrophen gehören nur bedingt dazu, da sie zwar lokal unter ungünstigen Umständen auch zu kaum beherrschbaren Problemen führen können, aber auch darauf beschränkt bleiben).

Als Mensch ist man geneigt, seine Handlungen weniger nach objektiv vorhandenen Risiken als vielmehr nach deren subjektiven Einschätzungen auszurichten (jeder Flugzeugabsturz mit vielen Opfern irgendwo auf der Welt erhöht die Flugangst vieler Menschen, obwohl es objektiv gefährlicher ist, in einer Großstadt eine Straße zu überqueren als mit einem Flugzeug zu fliegen - und auch das Rauchen kann gar nicht so gefährlich sein, denn Helmut Schmidt lebt ja auch noch). So wird z.B. die Kernenergieerzeugung bei uns in DE (und interessanterweise nur hier) als subjektiv gefährlicher eingestuft, als sie nach bisherigen Erfahrungen objektiv ist. Trotzdem unterscheidet sich ein AKW-Super-GAU mit kompletter Freisetzung seines nuklearen Potentials (was bis heute nur in Chernobyl passiert ist) in seinen Langzeitwirkungen beträchtlich von einem Unfall in einem herkömmlichen Kraftwerk mit vielen dutzenden Toten. Man kann also beide Risiken nur bedingt vergleichen. Anders sieht es aus, wenn man die Umweltbilanzen der einzelnen Formen der Energieerzeugung miteinander in Beziehung setzt: Kernenergie, Energie durch Verbrennung fossiler Rohstoffe, regenerierbare Energien. Was Umweltschäden betrifft, hat mittel- und langfristig gesehen, die zweite Energieform (d.h. die Verbrennung fossiler Energieträger) das größte Gefahrenpotential, weil sie nicht lokal begrenzbar ist. Ich meine das sattsam diskutierte Problem des CO2-induzierten Klimawandels. Dazu nur folgende, noch hypothetische Wirkungskette: Erhöhung der globalen Gleichgewichtstemperatur durch den stärker werdenden Treibhauseffekt - Verschiebung klimatischer Zonen auf der Erde - dadurch bedingte Verringerung der Diversität biologischer Vielfalt (Massenextinktion), da die Lebewesen die kurzfristig erforderlichen Anpassungsleistungen nicht leisten können (wir unterschätzen maßlos die Bedeutung der Diversität des Lebens auf die Zukunftschancen unserer eigenen Spezies!) - gesellschaftliche Auswirkungen durch Verlust von Küstengebieten (Schmelzen des Inlandeises), der Verfügbarkeit von Wasser, Nahrung und Energie etc. Dabei ist weniger die globale Temperaturzunahme ein Problem (so etwas hat es in der Erdgeschichte schon oft gegeben), sondern vielmehr deren Tempo und das sie auf störanfällige, da äußerst komplexe Industriegesellschaften trifft (ohne Supermarkt ist ein Bürger einer Industriegesellschaft so gut wie nicht mehr überlebensfähig). Als man in den neunziger Jahren diesen Wirkzusammenhang erkannt hatte, wurde der Verringerung des CO2-Ausstoßes international zur höchsten Priorität erklärt (Kyoto-Protokoll). Und insbesondere DE wurde zu einem Vorreiter mit besonders ehrgeizigen Klimaschutzzielen (die natürlich, isoliert betrachtet, global völlig bedeutungslos sind). Die Ergebnisse, welche die Bemühungen, den CO2-Ausstoß international zu begrenzen, bis heute gebracht haben, sind eher als bescheiden einzuschätzen. Und daran wird sich voraussichtlich auch in der Zukunft nicht viel ändern. Solange es noch irgendwo verbrennbare fossile Brennstoffe auf der Erde gibt, werden sie bereits aus rein ökonomischen Gründen gefördert und letztendlich auch verbrannt. Dieser Vorgang läßt sich vielleicht verlangsamen, aber nicht aufhalten. 

Insbesondere Entwicklungsländer mit fossilen Brennstofflagern, aber extremen Energiedefizit, werden kaum in teure Öko-Energieträger wie Windkraftanlagen oder Solarzellen investieren, sondern erst einmal das Verbrauchen, was sie eh aus dem Boden holen können. In der Beziehung, daß es gelingen könnte, das anthropogene Treibhausproblem zu lösen, bin ich eher pessimistisch eingestellt. Andererseits würden die Folgekosten, wenn das vorhergesagte Szenario wirklich eintreten sollte (was lange noch nicht amtlich ist), die Kosten eines oder mehrerer lokaler AKW-GAU's sicherlich um viele Größenordnungen übersteigen.

Kommen wir jetzt zur Diskussion des Atomausstiegs in DE und wie er gehandelt werden soll. Genug darüber gibt es ja z.Z. in unseren Gazetten zu lesen - aber der Erkenntnisgewinn bleibt leider summa summarum relativ gering. 

Das Ereignis in Fukujima machte jedenfalls einen solchen Eindruck, daß man selbst in DE einen Tsunami an der Nordsee mit Flutwelle bis tief nach Niedersachsen hinein und Erdbeben der Stärke 9 und höher im Oberrheingraben nicht mehr ausschließen möchte. Oder kurz gesagt, es sind auch bei deutschen AKW’s Szenarien denkbar, an die bis jetzt niemand gedacht hat (ach ja). Aber das ist keine neue Erkenntnis. Solche Szenarien sind immer denkbar (z.B. daß ein Eisen-Stein-Meteorit den Reaktorkern durchschlägt oder ein Flugzeug beabsichtigt oder unbeabsichtigt auf das Containment stürzt). Die einfachste Methode, dieses Restrisiko zu beseitigen, ist natürlich die AKW’s abzuschalten. Damit wird aber dieses Risiko nicht gleich Null, denn außerhalb unserer Landesgrenzen stehen in Europa noch weitere 179, ähnlich gefährdete AKW’s. Dazu kommen noch 14, die im Bau sind sowie weitere 40 in Planung. Deutschland ist quasi von Atomkraft umzingelt! Das ist dahingehend bedrohlich, da auch bei diesen unvorhergesehene Szenarien denkbar sind und zum anderen aber auch positiv, da wir jederzeit Strom einkaufen können, wenn bei uns in Zukunft mal die Sonne nicht scheint oder ein Oster-Hoch partout die Windkraftanlagen nicht drehen lassen will. Realistisch betrachtet, ist also ein Atomausstieg eher eines der Problemstellungen, die gemeinschaftlich europaweit (oder noch besser, weltweit) zu lösen wären. Denn hier zieht auch das Argument der „Vorbildwirkung“ nicht, solange nicht bewiesen ist, daß man mit alternativen Energien Versorgungssicherheit zu moderaten Preisen erreichen kann.   

Also angenommen, DE verabschiedet sich von heute auf morgen von der Brückentechnologie „Atomkraft“. Was ist der Preis dafür, den wir an Lebensqualität gewinnen oder verlieren? Auf der Habenseite steht das gute Gefühl, sicherer leben zu können. Und was steht auf der Gegenseite? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns erst einmal die Leistungsbilanz aller deutschen energieerzeugenden Anlagen ansehen (2010):

Braunkohle 24%
Kernenergie 22%
Steinkohle 19%
Erdgas 14%
Windenergie 6.2%
Biomasse 5.6%
Wasserkraft 3.2%
Photovoltaik 2%
Sonstiges (u.a. Geothermie) 5%

100% entspricht einer Strommenge von 621 TWh. Der Anteil an regenerativen Energien liegt z.Z. bei 16.5 %.  Der Laie meint nun, daß man eigentlich nur die regenerativen Energien etwas mehr als verdoppeln muß, um die Kernenergie komplett ersetzen zu können. Also ein paar Windkraftanlagen mehr und auf jedes Dach eine Solarzelle. Aber so einfach ist das nicht. Betrachten wir die Angelegenheit einfach mal als eine Art von „Fermi-Problem“ und versuchen wir uns ein Bild von der vor uns stehenden Herausforderung zu machen. Damit die Kernkraftwerke ihren Anteil am „Strommix“ bringen können, müssen sie eine Leistung von ~15600 MW ein Jahr lang ununterbrochen bereitstellen. Die gleiche Leistung könnten unter optimalen Bedingungen auch 7800 Windkraftanlagen mit einer Nennleistung von jeweils 2 MW liefern. Das klingt erst einmal gar nicht so viel bei derzeitig ~21600 Windkraftanlagen, die in DE mittlerweile rumstehen. Leider wird aber ihre Nennleistung erst bei einer scharfen Briese von ~50 km/h erreicht. Solch ein starker Wind weht nicht sehr oft im Jahr. Zwar drehen sich die Windräder auch bereits bei bedeutend geringeren Windgeschwindigkeiten. Doch leider ist die Windleistung von deren 3 Potenz abhängig. Im Regelfall wird im Mittel nur ungefähr 10% - 20% der Nennleistung über das Jahr aufgerechnet erreicht. Nun ja, das erhöht die Anzahl der benötigten Windräder von 2 MW Nennleistung (richtig große Klopper von 100 m Höhe und 90 m Rotordurchmesser) um den Faktor 5 bis 10. Aber auch das ist nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche technische Problem von Windkraftanlagen liegt darin, daß sie nicht grundlastfähig sind. Dafür weht der Wind einfach nicht stetig genug. Sie können deshalb prinzipbedingt nur bereits vorhandene Kohle- und Gaskraftwerke ergänzen, es sei denn, man ersinnt effektive Speichermöglichkeiten, welche nicht planbare Stromüberkapazitäten aufnehmen und bei Bedarf wieder abgeben können. Dafür kommen z.Z. eigentlich nur Pumpspeicherwerke in Frage. Es ist also illusorisch, die AKW’s komplett durch Windenergieanlagen ersetzen zu wollen. Um AKW’s zu ersetzen, benötigt man vielmehr neue klassische Kohle- und Gasturbinenkraftwerke. Aber auch diese haben ihre Probleme und zumindest die Kohlekraftwerke wurden von den Grünen längst als Dreckschleuder und unerwünschte CO2-Quellen erkannt. Aber zurück zu den Windkraftanlagen. Auch hier stellt sich die Frage des Restrisikos. Wollen wir das Restrisiko der AKW’s ertragen und eingehen oder ist es besser, dieses Restrisiko zumindest etwas zu reduzieren, in dem wir DE in ein Land verwandeln, wo jedes Stückchen Land durch 100 Meter hohe Windräder verschönert wird? Die Holländer jedenfalls haben von onshore-Windparks mittlerweile die Nase gestrichen voll. Und noch etwas ist zu bedenken. Windräder sind auch deshalb vielen Grünen (Atomkraftgegnern) ein Dorn im Auge, weil sie Vögel schreddern. WKA's sind VSA's (Vogelschredderanlagen). 2008 konnten bei der regelmäßigen Überwachung von 3 Windparks in Brandenburg mit 77 WKA’s 94 tote Rotmilane, 91 Mäusebussarde, 31 Seeadler, 23 Turmfalken, 9 Schwarzmilane, 4 Sperber, 4 Baumfalken, 3 Habichte, 2 Merlinfalken und jeweils 1 Raufußbussard, 1 Rohrweihe und 1 Wiesenweihe festgestellt werden (Quelle NABU). Auch hier stellt sich die Frage: Erhöht sich unsere Lebensqualität, wenn um uns Vögel, die wir zu schützen vorgeben, geschreddert werden? Inwieweit sich offshore-Windparks auf den Bestand von Wasservögeln und den Vogelzug auswirken, wird z.Z. untersucht. Jedenfalls sind hier die methodischen Probleme, um zu Ergebnisse zu kommen, schwieriger als in Brandenburg. 

Kommen wir zum nächsten technischen Problem, welches sich mit der verstärkten und unstetigen Einspeisung von Wind- und Solarstrom stellt – das Netzproblem. Strom muß transportiert werden – vom Erzeugungsort zum Ort, wo er verbraucht wird. Dafür gibt es nationale und multinationale Stromnetze. In Europa werden sie gewöhnlich mit einer Spannung von 220 kV bzw. 380 kV als 3-Phasenwechselstrom mit einer Frequenz von 50 Hz betrieben (sogenannte Übertragungsnetzwerke). Für diese Netze gelten physikalische Gesetze (Kirchhoffsche Regeln), die sich auch von den parlamentarischen Gesetzgebungsgremien von Bund, Ländern – oder gar Brüssel – nicht ändern lassen. Und diese Gesetze bestimmen u.a. auch die Strommenge, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer Hochspannungsleitung übertragen läßt. So sind hohe Spannungen notwendig, um hohe Leistungen bei einem gegebenen Kabelquerschnitt überhaupt mit wenig Verlust übertragen zu können (Stichwort "ohmscher Widerstand"). Weitere Punkte, auf die ich jetzt aber nicht näher eingehen möchte, betreffen z.B. die Blindleistungskompensation, die u.a. auch von der Gestaltung der Freileitungsmasten und dem Aufbau der Hochspannungsleitungen abhängt. 

Hochspannungstrassen sind gewöhnlich als Netzverbünde ausgelegt, die lokal getrennte Energieerzeugungsanlagen (z.B. AKW’s oder Kohlekraftwerke) mit Ballungsgebieten (wo der erzeugte Strom vornehmlich verbraucht wird) koppeln. Dabei gilt das Prinzip der kurzen Wege: Strom sollte immer dort verbraucht werden, wo er auch erzeugt wird. Dieses Prinzip wird im Fall von großen offshore-Windparks verletzt, wenn die Verbraucher im Süden Deutschlands sitzen. Das gegenwärtig bestehende Stromnetz reicht dann bei weitem nicht aus, um bei hohem Windenergieaufkommen die Strommenge über die vorhandenen Trassen nach Süden zu leiten. Von den Unsicherheiten ganz zu schweigen, die ständig wechselnde Lasten den Stromnetzbetreibern den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Also ganz kurz: Das Stromnetz und die Energieflüsse darin sind so komplex, daß man eine Netzfreigabe für neue Kraftwerke erst nach umfangreichen Simulationsrechnungen verantworten kann, da bei Fehlern Blackouts drohen. Ein wohlüberlegter Netzausbau ist eine Grundvoraussetzung dafür, wenn man die Windkraftkapazitäten (gilt auch für die Photovoltaik) weiter ausbauen möchte. Und auch hier wird es zu Problemen kommen. Auch ein Atomkraftgegner wird seine Lebensqualität arg eingeschränkt erleben, wenn neben seinem Haus eine 380 kV-Trasse entlanggeführt wird und unter ihr eine Neonröhre wie von selbst zu leuchten beginnt. Aber das läßt sich ja mit Erdkabeln lösen. Wirklich? Aber ja. Als teure gasisolierten 380 KV-Erdleitung bis zu einer Entfernung von 10 bis maximal 50 km. Bei mehr wird der Blindleistungsanteil einfach zu hoch. Hier helfen nur andere physikalische Prinzipien, wie z.B. der Stromtransport mittels Gleichstroms hoher Spannung. Aber das ist meines Wissens noch Gegenstand der Forschung. 

Und noch ein Wort zur Problematik „unstetige Einspeisung“. Sie stellt eine Gefahr für jedes Stromnetz dar (man denke an den Blackout in Kanada aufgrund eines Sonnensturms im Jahre 1989). Im günstigsten Fall wird man blitzschnell Strom (kostenlos) an die nicht ausgelasteten Verbünde der Nachbarstaaten abgeben bzw. bei plötzlicher Flaute Strom von ihnen teuer einkaufen müssen. 

Eine Wende in der Energiepolitik muß also auf das Gründlichste durchdacht werden, bevor man mit einem Schnellschuß die Energieversorgung eines ganzen Landes aufs Spiel setzt.

Und noch ein Punkt: Ein AKW kann mal für Nachrüstungs- oder Reparaturzwecke gut und gern für längere Zeit vom Netz genommen werden. Aber auch WKA’s verschleißen mit der Zeit. Zigtausende regelmäßig zu warten und gegebenenfalls zu erneuern, ist auch keine leichte Aufgabe. Und wie sieht eigentlich die Energiebilanz einer Windkraftanlage aus? Wieviel elektrische Energie muß man für ihre Herstellung erübrigen und wieviel mehr bringen sie während ihrer Lebenszeit ein? Ich weiß es leider nicht.

Nun noch ein paar wenige Worte zum Thema Photovoltaik. Eine feine Sache, wenn man Geld für Investitionen hat und man dabei den dabei erzeugten Strom hoch subventioniert verkaufen kann. Eine Billig-Anlage (13 m²) kostet z.Z. 2500 €. Mit ihr lassen sich in DE ca. 1000 kWh im Jahr erzeugen (zumindest tags). Um mit diesen Anlagen ein 1.2 GW AKW zu ersetzen, müßte man 26 Milliarden € investieren (das AKW liegt mit einem Preis um 6 Milliarden € im Rennen). Auf jeden Fall ziert eine solche Anlage das Dach einer jeden Villa oder Einfamilenhauses. Hauptsache es brennt mal nicht tagsüber. Als Feuerwehrmann würde ich es mir jedenfalls zweimal überlegen, ob ich einen Wasserstrahl auf eine nichtabschaltbare Anlage mit einer Gleichspannung von 1000 Volt richte...

Bei einer kurzfristigen Abschaltung der deutschen AKW’s müssen zig GW an Leistung von herkömmlichen Kohle- und Gaskraftwerken aufgebracht werden, da nur sie grundlastfähig sind (AKW’s liefern gewöhnlich ihre Nennleistung im Gegensatz zu Windkraft und Photovoltaik, die im Mittel nur 10% ihrer installierten Leistung permanent zu liefern vermögen). Da ist es um so erstaunlicher (und man reibt sich die Augen), daß eine Regierung (inkl. Opposition), die vor kurzen am liebsten noch jedes zusätzlich produzierte CO2-Molekül besteuern wollte, auf einmal eine solche Kehrtwende unternimmt. Man sieht regelrecht, wie der lange Arm von Fukujima die Hirne unserer Mandatsträger in einen GAU treibt – und sie merken es nicht einmal. Und so mancher Mitbürger, der heute zu Ostern lauthals "Atomausstieg sofort" ruft, wird sich über kurz oder lang wünschen, er hätte sich von den Folgen eines 9000 km entfernten Tsunamis nicht zur Schleifung der sichersten Kernkraftwerke der Welt überreden lassen. Und am Stammtisch wird er über die Verschandelung wertvoller alter Bausubstanz durch Solaranlagen im speziellen und der Landschaft vor seiner Haustür durch riesige Windkraftanlagen im allgemeinen, schimpfen. Aber man kann nun mal nicht alles im Leben haben. 

Jetzt noch einmal zu der Frage – AKW’s ja oder nein? Natürlich ist es möglich und in globaler Sicht vielleicht sogar wünschenswert, aus der Energieerzeugung durch Kernspaltung auszusteigen. Aber ist es auch vernünftig, es gerade jetzt zu tun? Es erscheint unvernünftig, wenn ein schneller Ausstieg zu einer hochgradigen Versorgungsunsicherheit führt. Die Versorgungssicherheit ist ein hohes Gut in einer Industriegesellschaft, da sie deren Überleben sichert und darüber hinaus direkt den Grad des Wohlstandes bestimmt. Lohnt es sich, diese aufs Spiel zu setzen, um national ein Restrisiko auszuschließen, mit dem die Nachbarländer weitgehend pragmatisch umgehen? Ist es sinnvoll, in einem hochtechnisierten Land wie DE die Studiengänge in Kernenergietechnik aus politischen Gründen einzuschmelzen oder gar abzuschaffen, nur weil die Politik und ein Teil der Bevölkerung meint, Atomkraft sei Teufelszeug? Wie wollen wir denn dann noch in anderen Ländern mit unseren Ratschlägen ernst genommen werden? Und ist vielleicht die langfristig mehr erzeugte CO2-Menge am Ende viel gefährlicher? Man sollte zumindest einmal über das für und wider ernsthaft nachdenken, ehe man nach Bauchgefühl und politischer Meinungslage irreversible Entscheidungen trifft.

Kernenergie wird immer gern als Brückentechnologie betrachtet. Das ist durchaus richtig. Nur sollte man die "Brücke" etwas weiter fassen. Denn die ultimative Energiequelle der Zukunft ist und bleibt die Kernfusion. Und dann liest man in der Online-Ausgabe der „Welt“ „Forschung zur Kernfusion wird zurückgefahren“. Die EU hat beschlossen, dafür bereits genehmigte Gelder zu streichen. Und unser Bundesrat hat gleich befehlsgemäß zugestimmt. Die Argumentation erscheint abenteuerlich. Die Bürokraten meinen „Möglicherweise sind Fusionsreaktoren erst ausgereift, wenn sie aufgrund der Weiterentwicklung der regenerativen Energien gar nicht mehr nötig sind.“ ...“ Diese Forschung behindere die gegenwärtige Energiewende. Mit der Nutzung der Kernfusion sei nicht vor 2060 zu rechnen.“ Es ist richtig, daß die Kosten für Forschungen auf dem Gebiet der Kernfusion immens sind. Aber gerade die europäische Union, die allem Anschein nach für jeden möglichen Müll genügend Geld zur Verfügung hat, sollte Forschung für eine Energiequelle, welche die Menschheit von allen Energiesorgen ein für alle mal frei machen würde, einen gewissen Wert einräumen. Aber was solls. 

Wie in der EU im Großen erscheint auch die Lage in DE im Kleinen bereits jetzt schon irgendwie schizophren. Seitdem das AKW-Moratorium besteht, fließen z.B. aus Tschechien beträchtliche Mengen Atomstrom nach Süddeutschland, um dort die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. DE ist innerhalb einer Woche von einem Stromexporteur zu einem Stromimporteur geworden. Rationalität, wie sie für ein Land der Ingenieure selbstverständlich sein sollte, hat sich in ein Glaubensbekenntnis gewandelt. Das wichtigste und beste Argument, welches unser derzeitiger Umweltminister bei Frau Illgner in einer ihrerer letzten Sendungen immer wieder vorbrachte war, „daß er glaubt ... daß wir den Ausstieg (schon irgendwie) schaffen werden“. Aber auf den Glauben, daß der Strom für immer und ewig aus der Steckdose kommt, sollte man sich lieber nicht verlassen.

Fundiertes Hintergrundwissen zu den Ereignissen in Fukujima
Baseler Studie zur Versorgungssicherheit in DE bei schnellem Atomausstieg




www.wincontact32.de    WINcontact 32 - Blog

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de Interessante Blogs Blog-Webkatalog.de - das Blogverzeichnis